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Empfindungen zwischen Glück und Einsamkeit

Margot Seewi hat schöne und schreckliche Erinnerungen an ihre Kindheit in der bis heute gern besuchten Heimatstadt

„Unsere Kindheit war dadurch leider keine normale Kindheit” erinnerte sich Margot Seewi 1962 in einem Brief an Oberbürgermeister Rolf Engelbrecht der Jahre der zunächst schleichenden, später unverhüllten Verfolgung und der wachsenden Isolierung und Diskriminierung der Juden in Weinheim. „Ich bin in Weinheim in die Schule gegangen, und weil mein Vater Frontkämpfer gewesen war, hatte ich sogar das Privileg, ins Gymnasium zu gehen”, berichtete die 1926 geborene Enkelin von Isaak Heil von ihren Jugendjahren in dem schönen Haus am Eingang der Fußgängerzone, das der Großvater 1906 hatte errichten lassen. Was in den ersten sechs Jahren Nationalsozialismus auch in Weinheim geschah, „waren Dinge, die sich auch kleinen oder verhältnismäßig kleinen Kindern tief eingeprägt haben”.

Dennoch verbinden Margot Seewi „viele schöne Kindheitserinnerungen mit Weinheim”, sie habe Freunde dort und es genüge, „den Namen meiner Großeltern zu nennen, um in vielen Weinheimer Häusern noch jetzt willkommen zu sein”, schrieb sie 1962 an Rolf Engelbrecht. Daran hat sich bis heute nichts geändert: „Ich komme gern nach Weinheim zurück, aber es scheint mir dann immer wieder leer und verwaist, nicht nur, weil meine eigene Familie nicht mehr da ist, sondern weil keiner aus der Gemeinde mehr da ist. Und diese Gemeinde war, so weit ich mich erinnern kann, eine einzige große Familie”. Margot Seewi nahm 1979 und 1991 an den beiden Heimattreffen ehemaliger jüdischer Mitbürger Weinheims teil.

Arthur Auerbacher half

Als Zwölfjährige hat Margot Rapp - Enkelin von Recha und Isaak Heil, Tochter der Heil-Tochter Tilly und des Textilkaufmanns Friedrich Rapp - die Zerstörung der Synagoge und das gewaltsame Eindringen wildfremder Menschen in die Geschäfte Heil und Neu im heutigen Commerzbank-Gebäude. Nach den November-Pogromen durften die jüdischen Kinder Weinheims keine „deutschen” Schulen mehr besuchen. Doch sie hatten Glück, denn der aus dem Schuldienst entfernte jüdische Religionslehrer Arthur Auerbacher versammelte die Kinder in seiner Wohnung an der Friedrichstraße und erteilte ihnen, trotz der recht unterschiedlichen Altersgruppen, regelmäßig Unterricht.

Der Religionslehrer Arthur Auerbacher (44), seine Frau, die Kindergärtnerin Johanna Auerbacher (45), und die Kinder Berthold (14) und Herbert (10) sind seit ihrer Deportation am 26. April 1942 nach Izbica in Polen verschollen. Sie waren die letzten Juden, die „nach dem Osten evakuiert” wurden, wie man aus der offiziellen Eintragung auf der Volkskarteikarte erfahren kann.

Rettung im Kindertransport

Im Jahre 1939 konnten die wenigen, nach der Auswanderungswelle 1938 in Weinheim verbliebenen jüdischen Kinder schulische Förderung in israelitischen Einrichtungen in Mannheim und Heidelberg erfahren, die aber über Klassengrößen nicht mehr hinauskamen. Denn immer mehr Eltern versuchten verzweifelt, ihre Kinder mit einem Kinder-transport in Sicherheit zu bringen.

Fast 10.000 jüdische Kinder wurden 1938/39 mit einem Unternehmen aus Hitlers Großdeutschland gerettet, das jüdische, christliche und politische Verbände in England als Reaktion auf die Pogromnacht am 9. November 1938 ins Leben gerufen hatten. Während die USA und europäische Regierungen sich weigerten, jüdische und politische Flüchtlinge aus Deutschland aufzunehmen, erklärten sich die Briten bereit, einer beschränkten Anzahl von Kindern unter 17 Jahren die Einreise zu gewähren. Von den 9.354 Kindern, die damals in eine ungewisse, aber sichere Zukunft ausreisten, waren 90 Prozent Juden oder hatten Eltern, die als Kommunisten oder Intellektuelle von Hitler verfolgt wurden.

Fünf Kinder aus Weinheim …

Mit den Kindertransporten, die von der Amerikanerin Deborah Oppenheimer in Erinnerung an ihre aus Chemnitz gerettete Mutter im Jahre 2000 zum Thema eines bewegenden Dokumentarfilms gemacht wurden, erreichten drei Weinheimer Kinder England. Der 16-jährige Werner Kassel, dessen Eltern beim „Badischen Hof” das Lederwarengeschäft Kassel & Marx betrieben, reiste am 1. August 1938 nach England und anglisierte später seinen Familiennamen in Cassell. Kassels Schwester Johanna, genannt Hannele, schaffte als 14-Jährige 1939 noch die Auswanderung nach Palästina. Vater Theodor Kassel war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. Seine Frau Berta, geborene Marx, blieb nach dem Umzug nach Frankfurt zwar von der Vernichtungsaktion gegen die badischen Juden verschont, überlebte das „Dritte Reich” dennoch nicht.

Leopold Schloß, Inhaber des renommierten Schuhhauses Hirsch (heute Neureither), brachte für seine Töchter Lore (11) und Beate (9) das Geld für die Auswanderung auf. Am 21. Mai 1939 verließen die beiden Mädchen Weinheim in Richtung England und wurden gerettet. Die Eltern Leopold und Gertrud Schloß übersiedelten nach Heidelberg, die Mutter starb im August 1940,doch der Vater wurde am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert.Leopold Schloß wurde im Januar 1945 nach Auschwitz transportiert, später nach Buchenwald. Dort starb er, 46-jährig, im Februar 1945.

… sahen ihre Eltern nicht wieder

„Schau Dich noch einmal um, vielleicht siehst Du Weinheim nicht wieder”, sagte Tilly Rapp in den letzten Dezember-Tagen 1939 zu ihrer 13-jährigen Tochter Margot, als sie vom Elternhaus am Rossmarkt (heute Commerzbank) zum Bahnhof gingen. Tilly und Fritz Rapp hatten ihre Tochter nach dem Schulverbot zur Auswanderung angemeldet, die nach England, Palästina und Holland möglich war, wenn dort lebende Verwandte eine Bürgschaft stellten. Die erste Zusage war aus Palästina gekommen und deshalb brachten die Eltern das traurige, verängstigte Mädchen nach München und setzten es in den Zug nach Triest. Dort bestieg Margot Rapp das italienische Schiff, das die Kinder nach Palästina brachte.

Die 13-Jährige wurde von einer verwandten Familie aufgenommen, wechselte nach dem 18. Geburtstag in einen Kibbuz und diente später in der israelischen Armee. Im Kibbuz heiratete Margot Rapp den in Berlin geborenen Ingenieur David Seewi.1960 kehrte das Ehepaar nach Deutschland zurück.

Margot Seewi hat ihre Eltern und ihre Oma Recha Heil nach dem Abschied von Weinheim nicht mehr gesehen. Alle drei wurden 1940 nach Gurs deportiert. Recha Heil erlag 73-jährig den unmenschlichen Bedingungen im Lager schon im Dezember 1940, Fritz Rapp (54) und Tilly Rapp (40) wurden im August 1942 nach Auschwitz transportiert und vergast.

Mit den Eltern und der Oma wurde der damals dreijährige Rapp-Sohn Ernst nach Gurs deportiert. Unter den katastrophalen Haftbedingungen wurde das Kind schwer krank und lag auf der Krankenstation, als seine Eltern nach Auschwitz und in den Tod geschickt wurden. Das französische Kinderhilfswerk OSE nahm sich des Jungen an und brachte ihn in ein französisches Waisenheim. Als die Judenjagd auch die Kinderheime bedrohte, wurden die jüdischen Waisen auf französische Familien verteilt. Ernst Rapp wuchs als junger Franzose auf und nennt sich seither Ernest.

Nach Kriegsende erfuhr Margot Seewi über das Rote Kreuz vom Überleben des Bruders und nahm den inzwischen 12-Jährigen mit nach Israel.

Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 24.08.2006

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