Nach der Pogromnacht schlossen sich auch Weinheims Schultore für jüdische Kinder / Arthur Auerbacher half ihnen weiter
Im Sommer 1934 kam der israelitische Religionslehrer Arthur Auerbacher (36) aus Sinsheim nach Weinheim und mietete in der Friedrichstraße bei Küfermeister Bayer eine Wohnung für seine Familie: seine Frau Johanna (38) und die beiden Söhne Berthold (6) und Herbert (2). Auerbacher trat wohl bei der israelitischen Gemeinde Weinheim die Amtsnachfolge des langjährigen Kantors und Religionslehrers Marx Maier an. Margot Seewi, Enkelin des Kaufhausgründers Isaak Heil (heute Commerzbank), kann sich noch gut an den Vorbeter in der Synagoge an der Ehretstraße erinnern.
Der kleine Berthold Auerbacher fand schnell Anschluss bei den Buben der Friedrichstraße, die die damals noch weitgehend fahrzeugfreie Straße zu ihrem Spielplatz erkoren hatten. Und natürlich ging er, wie alle Buben der Innenstadt, täglich mit dem Schulranzen auf dem Rücken zur Diesterwegschule. Nach dem 10. November 1938 aber, dem Tag, als die Synagoge zerstört wurde, waren Berthold und Herbert Auerbacher nicht mehr dabei, wenn die Buben auf der Friedrichstraße oder im Bürgerpark spielten. Sehnsüchtig schauten sie dann durch den Vorhang im Wohnzimmer, blieben aber im Haus, wie es die Eltern angeordnet hatten. Da half es nicht, wenn die bisherigen Spielkameraden, die sich das plötzliche Fernbleiben der Auerbacher-Buben gar nicht erklären konnten, draußen immer wieder lockten: „Kommt doch heraus!”.
Nach der fünfwöchigen Lagerhaft von Arthur Auerbacher in Dachau – er war am Tag nach der Synagogen-Sprengung wie alle übrigen jüdischen Männer Weinheims verhaftet, nach Dachau gebracht, als Mitarbeiter einer jüdischen Kultusgemeinde aber länger als die anderen festgehalten worden – hatten die Eltern Angst um ihre Kinder, aber sicher auch um sich selbst, denn die „Nürnberger Gesetze” hatten den deutschen Juden schon drei Jahre zuvor alle staatsbürgerlichen Rechte genommen und nach der Pogromnacht wurden die Schikanen immer größer.
Am 15. November 1938 ordnete der für Erziehung und Volksbildung zuständige Reichsminister Dr. Bernhard Rust die „Entfernung aller jüdischen Kinder aus den deutschen Schulen” an. Damit war auch für die Auerbacher-Buben der Besuch der Volksschule nicht mehr möglich, geschweige denn der Wechsel von Berthold aufs Realgymnasium. Die Begründung des Schulausschlusses verbreitete das Deutsche Nachrichtenbüro (DNB), die offizielle Presseagentur des „Dritten Reichs”, und alle Zeitungen druckten sie: „Nach der ruchlosen Mordtat von Paris” - den tödlichen Schüssen des 17-jährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Legationsrat Ernst vom Rath am 7. November 1938 in Paris – „kann es keinem deutschen Lehrer und keiner deutschen Lehrerin mehr zugemutet werden, an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, dass es für deutsche Schüler und Schülerinnen unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen”.
Das Schulverbot traf alle jüdischen Schüler in Weinheim. Ihnen blieb als Alternative nur die tägliche OEG-Fahrt nach Mannheim und zur jüdischen Schule, wo sie von Lehrern unterrichtet wurden, die aus rassischen Gründen aus dem allgemeinen Schuldienst hatten ausscheiden müssen. Margot Seewi erinnert sich bis heute an die aufregenden Fahrten in der OEG und das ständige Bemühen, mit dem Daumen das Zwangswort Sara auf der Monatskarte für den Kontrolleur unsichtbar zu machen, das sie als Jüdin auswies, die seit dem 12. November 1938 eigentlich keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen durfte.
In Weinheim bemühte sich Arthur Auerbacher, vom Dienst an öffentlichen Schulen ausgeschlossen, um die jüdischen Kinder, deren Eltern das Schulgeld für den Besuch der jüdischen Schule in Mannheim und die Fahrtkosten nicht aufbringen konnten. In seiner Wohnung scharte er sie um sich und vermittelte ihnen wenigstens einen Teil der schulischen Bildung, die ihnen verwehrt wurde.
Dieses Engagement wurde im April 1939 stark eingeschränkt, als die Familie Auerbacher aus der Wohnung an der Friedrichstraße in eine kleinere Wohnung im Hause Hauptstraße 17 umzog. Ob der Wohnungswechsel unter Druck erfolgte, ist nicht bekannt. Margot Seewi glaubt sich zu erinnern, dass die Auerbachers in das „Judenhaus” umziehen mussten, wie das damals in den deutschen Großstädten üblich war, aber auch in den Reichsgauen praktiziert wurde. Der Begriff „Judenhaus” wurde im damaligen Alltags- und Behördengebrauch für Wohnhäuser aus jüdischem Besitz verwendet, in die ausschließlich jüdische Mieter und Untermieter eingewiesen wurden. Diese Einweisung war eine Art innerstädtischer Ghettoisierung, erleichterte die Kontrolle der jüdischen Bewohner und unterband gewachsene nachbarschaftliche Beziehungen.
Ob der Wohnungswechsel der Auerbachers vor diesem Hintergrund erfolgte, ist unbewiesen. Sicher aber ist, dass das Anwesen Hauptstraße 17 dem jüdischen Viehhändler Gabriel Lehmann gehörte und nach seinem Tod im Januar 1935 seiner Witwe Emma und seiner Tochter Friederike Oppenheimer, die 1940 beide nach Gurs deportiert wurden. Emma Lehmann starb 86-jährig im Lager Gurs. Sie musste noch erleben, wie ihre 57-jährige Tochter Friederike 1942 nach Auschwitz transportiert wurde.
Im Haus Hauptstraße 17, vor dem seit zwei Monaten vier Stolpersteine an die Familie Auerbacher erinnern, wohnten seit 1938 auch die jüdische Familie Eckstein, von der nur der Sohn Martin den Holocaust überlebte, bis 1933 der Kaufmann Louis Böhm und seine 1940 von Mannheim aus nach Gurs deportierte Witwe Friedrike Böhm, geborene Lehmann, außerdem Babette Meyberg, die 1939 nach Mannheim umzog und ebenfalls von dort nach Gurs verschleppt wurde.
Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 01.08.2007