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Unerfüllter Wunsch: Sonntagsspaziergang in den Kastanienwald

Briefe an Martin Eckstein aus dem Lager Gurs, in dem schon im ersten harten Winter elf Weinheimer den unvorstellbaren Lebensbedingungen erlagen

Als Martin Eckstein im Februar 1941 vom französisch-jüdischen Kinderhilfswerk OSE (Oeuvre de Secours aux Enfants) zusammen mit 50 anderen in Gurs inhaftierten Kindern nach Aspet, nahe der spanischen Grenze, in ein Waisenheim zu 120 französischen Waisen gebracht und damit vor dem Tod im Vernichtungslager bewahrt wurde, hatte der harte Winter 1940/41 im Lager Gurs bereits mehr als 1.000 Todesopfer gefordert. Unter ihnen waren elf der 65 am 22. Oktober 1940 verhafteten und deportierten Weinheimer: David Benjamin (69), Recha Heil (73), Herbert Kaufmann (56), Berta Lindheimer (Geburtsdatum unbekannt), Daniel Marx (80), Rosalie Neu (61), Louis Oppenheimer (76), Leo Schwarzschild (70), Rosa Schwarzschild (Geburtsdatum unbekannt), Heinrich Seelig (66) und Ferdinand Stiefel, der an seinem 63. Geburtstag den unerträglichen Verhältnissen im Lager erlegen war.

Camp de Gurs

In Gurs, einem heute rund 400 Einwohner zählenden Ort am Fuß der Pyrenäen, rund 75 Kilometer von der spanischen Grenze entfernt, war 1939 das „Camp de Gurs” als größtes französisches Internierungslager errichtet worden. Es war ursprünglich für die Unter-bringung von Soldaten der im Spanienkrieg beteiligten Internationalen Brigaden vorgese-hen, bald wurden dort aber auch politische Flüchtlinge festgehalten. Unter ihnen waren Hannah Arendt, jüdische Gelehrte deutscher Herkunft, die ehemaligen Reichstagsabgeordne-ten Marie Arning (SPD) und Eugen Eppstein (KPD) oder die Kunsthistorikerin Luise Strauss-Ernst, die Frau des surrealistischen Malers und Bildhauers Max Ernst.

Unbeschreibliche Zustände

Das „Camp de Gurs” war im Herbst 1940 auf die Ankunft von mehr als 6.500 Deportierten aus Baden, der Pfalz und dem Saarland völlig unvorbereitet. Die mit der Verdoppelung der Interniertenzahl entstandenen katastrophalen hygienischen Verhältnisse und die mangelhafte Verpflegung sind auch einem Jungen wie dem damals elfjährigen Martin Eckstein in Erinnerung geblieben. Er hat im April 1991 versucht, den Zehntklässlern des Werner-Heisenberg-Gymnasiums zu schildern, wie es in den niederen, primitiven Holzbaracken mit undichten Wänden, durchlöchertem Boden und hölzernen Klappen anstelle von Fenstern an einfach allem fehlte. „So ziemlich alles war nicht vorhanden”, hat auch Irma Dreifuss, eine überlebende südbadische Jüdin in ihren erst 2003 entdeckten und von der Badischen Zeitung ausschnittweise veröffentlichten Erinnerungen festgehalten. R. Olgiati, der im Auftrag einer Schweizer Organisation das Barackendorf Gurs besuchte, hatte schon 1941 festgestellt: „Die wenigen Waschgelegenheiten befinden sich außerhalb der Baracken und sind oft defekt, während der Kälte eingefroren. Die WC befinden ebenfalls außerhalb der Baracken und sind halb offene Verschläge mit Kübeln. Das allerschlimmste ist der Lehmboden, der durch die häufigen Regenfälle und durch das viele Begehen in ein Schlamm-Meer verwandelt wurde, das vielfach unpassierbar ist und bewirkt, dass das Herausgehen aus den Baracken für die Alten und Schwachen zur Unmöglichkeit wird. Die aus dieser Tatsache folgenden gesundheitlichen und hygienischen Zustände sind unbe-schreiblich”.

Über die katastrophalen Mängel in der Verpflegung schrieb Olgiati: „Wer auf Lagerkost allein angewiesen war, der geht mit Sicherheit in wenigen Monaten zugrunde. Die tägliche Nahrung enthielt etwa 800 Kalorien und bestand aus zweimal täglich dünne Suppe aus Mohrrüben oder spärlichen Nudeleinlagen, 300 Gramm Brot und 60 Gramm Fleisch inklusive Knochen”.

Unerfüllte Hoffnungen

Martin Eckstein hat den Schreckenswinter 1940/41 und das Massensterben im Lager Gurs miterlebt. Dann öffnete sich ihm das Tor zum Waisenheim in Aspet. Die Briefe der Eltern und der Schwester blieben fortan die einzige Verbindung, die darin immer wieder beschwo-rene Hoffnung auf ein Wiedersehen erfüllte sich nicht. Denn ab März 1942 veranlasste der Leiter des Judenreferates der Gestapo und Bevollmächtigte Eichmanns in Frankreich, Theodor Dannecker, Transporte nach Auschwitz, Lublin-Majdanek, Sobibor und andere Vernichtungslager, in denen die meisten Juden kurz nach ihrer Ankunft ermordet wurden. Der erste Transport verließ Gurs am 6. August 1942 und fuhr über Drancy bei Paris „mit unbekanntem Ziel” Richtung Osten. Am 10. August 1942 wurden Albert, Felicitas und Lore Eckstein nach Auschwitz transportiert und umgebracht.

Briefe aus Gurs

In den Stadtgeschichtlichen Sammlungen Pforzheim sind einige Briefe der Eltern und der Schwester an Martin Eckstein erhalten. Sie stammen aus dem Zeitraum zwischen Juli 1941 und Mai 1942, als sich die Versorgungslage ein wenig verbessert hatte. Doch auch aus den bewusst positiv verfassten Briefen klingt anhaltender Mangel an, wenn die Mutter an ihren „geliebten Martl” schreibt: „Eben kommt das Essen, ich will’s schnell holen – Krautsuppe”, oder der Vater den Buben fragt: „Kannst Du uns Kartoffeln schicken, die sind ja frei”.

Die Eltern geben sich in ihren Briefen alle Mühe, den fernen Jungen nicht spüren zu lassen, wie sehr sie die hoffnungslose Lage belastet, deren sie sich längst bewusst sind. Sie betonen fast überschwänglich kleine positive Ereignisse wie den nun öfter möglichen Besuch des Vaters aus dem Männerlager im Frauenlager, oder den Verlauf des Muttertages 1941: „Lore gab mir ein Stück Schoko und ein geröstetes Brot, beides war sehr willkommen”. Daraus entwickelte sich Mutters Rat: „Liebes Kind, esse Du nur, was Du geboten bekommst, wir müssen ja hier auch alles essen, was wir kriegen”.

Über ihren 20. Geburtstag am 18. August 1941 berichtete Lore ihrem Bruder: „Ich wurde furchtbar reich beschenkt, aber lieber wäre mir gewesen, ich hätte in Pforzheim bei weniger Geschenken feiern können” und: „Ich wollte, ich wäre bei Dir und könnte mit Dir Brombeeren pflücken”.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Albert Eckstein war auch im Lager Gurs Vorbeter und gestaltete die Gottesdienste zu den wichtigsten Festen. Zum jüdischen Neujahrsfest schrieb Martin an die Eltern. Der Vater bedankte sich für seinen Rosch-haSchana-Brief und unterstrich den Martins Neujahrswunsch, „dass wir hoffentlich nächstes Jahr wieder beisammen sind”. Auch der letzte Brief aus Gurs nach Aspet atmet noch Hoffnung: dass dem Jungen die Erlaubnis erteilt wird, am 25. Juli anlässlich seiner Bar Mitzwa, seiner Religionsmündigkeit, ins Lager zu kommen.

Martin Eckstein durfte die feierliche Einführung in die jüdische Glaubensgemein-schaft nicht im Familienkreis erleben – und zwei Wochen nach Bar Mitzwa wurden die Eltern und die Schwester in den Tod geschickt. Kurz vor seinem 13. Geburtstag blieb Martin Eckstein nur der letzte Briefwunsch des Vaters: „Dann würde ich mit Dir, das heißt wir alle, einen sehr schönen Spaziergang machen. Aber auch das kommt wieder: Sonntag morgens um 5 Uhr nach dem Kastanienwald in Weinheim”.

Über die Schweiz nach USA

Die Quäker, die sich um die Waisen in Aspet kümmerten, ermöglichten Martin Eckstein die Flucht zu Verwandten in Zürich. Die Frau, die ihm damals zur Freiheit verhalf, hat Martin Eckstein nach dem Krieg wiedergefunden. Ihr hat er in Jerusalem in der „Allee der Gerechten” einen Baum gepflanzt.

In der Schweiz ließ sich Eckstein zum Koch ausbilden, 1949 wanderte er nach Israel aus, 1955 in die USA.

Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 27.01.2007

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