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Mir dem Kindertransporten 1938/39 nach England und Palästina wurden auch Weinheimer Kinder gerettet

In den Kinos läuft jetzt ein bewegender Dokumentarfilm an, der die Geschichten von zwölf Kindern erzählt, die in den neun Monaten zwischen der Reichspogromnacht 1938 und dem Ausbruch des 2. Weltkrieges noch aus Deutschland auswandern konnten. Die Amerikanerin Deborah Oppenheimer hat ihn produziert. Ihre Mutter wurde 1939 mit einem der Kindertransporte von Chemnitz nach England geschickt. Fast 10 000 jüdische Kinder wurden 1938/39 mit einem Unternehmen aus Hitlers Großdeutschland gerettet, das jüdische, christliche und politische Verbände in England als Reaktion auf dei Pogromnacht vom 9. November 1938 ins Leben gerufen hatten.

Es war, darüber sind sich gegenwärtig die Autoren in allen Wochenzeitschriften einig, "eine ebenso selbstlose wie einzigartige Aktion" (Stern). Während die USA und andere europäische Regierungen sich weigerten, jüdische und politische Flüchtlinge aufzunehmen, erklärten sich die Briten bereit, einer beschränkten Anzahl von Kindern unter 17 Jahren die Einreise zu gewähren. Von den 9 354 Kindern, die damals in eine ungewisse aber sichere Zukunft ausreisten, waren 90 Prozent Juden oder hatten Eltern, die als Kommunisten oder Intellektuelle von Hitler verfolgt wurden.

Drei Kinder aus Weinheim

Drei Weinheimer Kinder erreichten mit den Kindertransporten England: Der 16-jährige Simon Werner Kassel, dessen Eltern beim "Badischen Hof" in der Mittleren Hauptstraße (heute Sport-Munk) das Lederwarengeschäft Kassel & Marx betrieben, reiste am 1. August 1938 nach England und anglisierte später seinen Geburtsnamen in Cassel.

Als 69-jähriger nahm er 1991 am 2 Heimattreffen ehemaliger jüdischer Mitbürger in Weinheim tei. Simon Werner Kassel Schwester Johanna, genannt Hannele Johanna Katz, schaffte nach dem Umzug der Eltern nach Frankfurt als 14-jährige 1939 noch die Auswanderung nach Palästina. Auch Johanna Katz, geborene Kassel, nahm 1991 am Heimattreffen teil. Ihr Vater Theodor Kassel starb 1937 und ist auf dem Hemsbacher Judenfriedhof beerdigt, seine Frau Berta Kassel blieb in Frakfurt zwar von der Vernichtungsaktion gegen die badischen Juden verschont, überlebte aber das "Dritte Reich" dennoch nicht. Auch Schuhkaufmann Leopold Schloss brachte für seine Töchter Lore Schloss (11) und Beate Schloss(9) das Geld für die Auswanderung auf. Am 21. Mai 1939 verließen die Mädchen Weinheim in Richtung England und wurden gerettet. Die Eltern Leopold und Gertrud Schloss zogen nach Heidelberg, wo Gertrud Schloss im August 1940 im verstarb, Leopold Schloss wurde am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert, von dort wurde er im Januar 1945 nach Auschwitz transportiert und weiter nach Buchenwald. Hier starb er im Februar 1945.

Es gab kein Wiedersehen

"Schau Dich noch einmal um, vielleicht siehst Du Weinheim nie wieder" sagte Tilly Rapp in den letzten Dezember-Tagen 1939 zu ihrer 13-jährigen Tochter Margot, als sie vom Elternhaus Hauptstrasse 63 am Anfang der heutigen Fußgängerzone (jetzt Commerzbank) zum Bahnhof ging. Margot Rapp, 1936 ins Realgymnasium Weinheim eingeschult, weil Vater Friedrich Rapp im 1. Weltkrieg Frontkämpfer war und als Schwerkriegsbeschädigter heimgekehrt war, hatte nach dem 10. November 1938 keinen Schritt mehr ins Schulgebäude an der Friedrichstraße machen dürfen. Deshalb meldeten Tilly Rapp und Friedrich Rapp ihre Tochter zur Auswanderung an, die nach England, Palästina und Holland möglich war, wenn dort lebende Verwandte eine Bürgschaft stellten.

Die erste Zusage kam aus Palästina und deshalb brachten die Eltern das traurige verängstigte Mädchen nach München und setzten es in den Zug nach Triest. Dort bestieg Margot Rapp das italienische Schiff, das Kinder nach Palästina brachte. Die 13-jährige wurde von einer verwandten Familie aufgenommen, wechselte nach dem 18. Geburtstag in einen Kibbuz und diente später in der israelischen Armee. Im Kibbuz heiratete Margot Rapp den in Berlin geborenen Ingenieur David Seewi. 1960 kehrten Margot Seewi und ihr Mann nach Deutschland zurück. Frau Seewi, seit zwei Jahren Witwe, lebt heute in Köln hat sechs Kinder und zwei Enkel und fühlt sich ihrer Heimatstadt Weinheim und ihren einstigen Klassenkameraden noch immer eng verbunden.

Das ist alles unvorstellbar

Noch immer ist ihr -und nicht nur ihr- unvorstellbar, was Menschen damals Menschen antaten. Aber heute kann Margot Seewi darüber sprechen, dass ihr Glücksgefühl, gerettet worden zu sein, jahrzentelang überschattet wurde von den traumatischen Erfahrungen einer abrupt beendeten Jugendzeit und von den Schuldgefühlen, dass sie den Holocaust überlebte, ihre Eltern und die geliebte Oma Recha Heil aber von ihm getötet wurden.

Margot Seewi Margot Seewi hat ihre Eltern und ihre Oma Recha Heil nach dem Abschied von Weinheim nie wieder gesehen. Alle drei wurden am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert. Die 73-jährige Recha Heil starb bereits am 16. Dezember 1940 im Lager. Friedrich Rapp(54) und Tilly Rapp (40)wurden am 10. August 1942 nach Auschwitz transportiert und kurz danach für tot erklärt.

Bis heute bewahrt Margot Seewi die kleinformatigen Briefe aus dem Schreckenslager Gurs auf, die ihr bis 1942 von der Hoffnung der Eltern berichteten, doch noch auswandern zu dürfen. Aber die Bürgschaft die dafür hätte geleistet werden müssen war für die einzige Tante in Amerika zu hoch.

Der Bruder wurde gerettet

Mit den Eltern und der Oma wurde im Oktober 1940 der damals dreijährige Bruder Ernst Leopold Rapp nach Gurs deportiert. Unter den unmenschlichen Haftbedingungen wurde das Kind schwer krank und lag auf der Krankenstation als seine Eltern nach Auschwitz in den Tod geschickt wurden. Das französische Kinderhilfswerk OSE nahm sich des Jungen an und brachte ihn in ein französisches Waisenheim. Als die Judenjagd auch Kinderheime bedrohte, wurden die jüdischen Waisen auf fränzösische Familien verteilt. Ernst Leopold Rapp wuchs als junger Franzose auf und das macht es verständlich, dass er Frankreich als sein Herkunftsland empfindet und Israel als seine Heimat.

Denn dorthin nahm Schwester Margot den inzwischen 19-jährigen Bruder Ernst Leopold Rapp mit, nachdem sie bei Kriegsende über das Rote Kreuz von seinem Überleben erfahren hatte. 1979 nahmen Ernst Rapp und seine Frau am 1. Heimattreffen in Weinheim teil. An die Stadt seiner Eltern und Großeltern, die das stolze Gebäude Hauptstrasse 63 am Eingang der Fußgängerzone 1906 errichtet und in ihm das angesehene Textilhaus Isaak Heil betrieben hatten hat Rapp keine Erinnerungen. Nach dem Tod seiner Frau un der Wiederverheiratung lebt Ernst Rapp heute in Mexico.

Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 05.12.2000

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