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Eine Scherbe am Wegrand macht Menschen lebendig

Ein Zufallsfund erinnert an die jüdischen Familien Heil und Neu, ihre Geschäfte und ihre Schicksale

Bei einem Waldspaziergang in der alten Heimat fiel der heute in Berlin lebenden Kunsthistorikerin Uta Karin Schmitt M.A. im Oktober vergangenen Jahres am Wegrand eine Porzellanscherbe auf mit einer überraschenden Aufschrift: Kaufhaus Ferdinand Neu Weinheim. Uta Schmitt hat über den Fund und ihre anschließenden Nachforschungen in einem Beitrag für das jüngste Heft des Museums-Förder-kreises berichtet. In der Altweinheimer Familie, aus der die Neu-Berlinerin stammt, wusste man freilich schnell mit dem Kaufmannsnamen Neu etwas anzufangen, denn für Oma Zieglers Generation gehörte das Kaufhaus Neu zu den Geschäften, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts Weinheims Ruf als Einkaufsstadt begründet und gestärkt hatten.

Ferdinand Neu betrieb ein Fachgeschäft für Glas-, Porzellan-, Haushalts- und Spielwaren in einem der schönsten Weinheimer Häuser: dem Jugendstil-Gebäude Hauptstraße 63, in dessen Erdgeschoss heute die Commerzbank ihre Geschäftsräume hat. Neus Schwager Isaak Heil hatte 1905 – so erfahren wir aus der Gebäu-degeschichte, die Silvia Wagner im Stadt-archiv zusammengestellt hat - von dem Landwirt Philipp Jacob Mayer ein zweigeschossiges Wohnhaus mit Scheune und Ställen gekauft, wie es um die Wende zum 20. Jahrhundert beim einstigen Rossmarkt mehrere gab.

Heil ließ 1906 den 190 Jahre alten Bauernhof abreißen und auf dem Gelände ein dreigeschossiges Wohnhaus mit ausgebautem Dachstock errichten. Im Erdgeschoss des Heil-Neubaues entstanden zwei Ladengeschäfte. Hier eröffneten Isaak Heil ein Bekleidungshaus, Ferdinand Neu ein Haushaltswarengeschäft. 32 Jahre lang kauften die Weinheimer gern bei Heil und Neu ein – bis zum 10. November 1938, dem Tag, als in der nahen Bürgermeister-Ehret-Straße die Synagoge gesprengt und entlang der Hauptstraße die Schaufenster jüdischer Geschäfte eingeschlagen und Innen-einrichtungen auf die Straße geworfen wurden.

Zerstörte Lebenswerke

Margot Seewi, Heils heute 80 Jahre alte, in Köln lebende Enkelin, damals Schülerin in der Quarta des Realgymnasiums Weinheim, hat bis heute eine lebendige, unvergesslich bleibende Erinnerung an die Vormittagsstunde dieses 10. November 1938, als eine Explosion die Innenstadt erschütterte und wildfremde Menschen auch in die Geschäfte Heil und Neu eindrangen: „Sie schlugen alles kurz und klein”. Isaak Heil, ihr Großvater, musste nicht mehr erleben, wie in seinem Geschäft die Bettfederkissen aufgerissen und zusammen mit anderen Waren auf die Hauptstraße geworfen wurden: der Firmengründer war am 2. Oktober 1938, knapp sechs Wochen vor der Pogromnacht, gestorben.

Nur ein kurzer Hof-Verkauf

Nicht besser erging es an diesem 10. November 1938 Heils Schwager Ferdinand Neu. Auch sein Geschäft wurde zerstört, obwohl Weinheims Buben gern zum „Neue-Ferzel” gegangen waren, weil sie seine Spielsachen mochten. Der kräftige, humorvolle Mann, der mit der in Weinheim üblichen Verkleinerung des Vornamens Ferdinand gut leben konnte, versuchte damals zu retten, was noch zu retten war. Während die stark beschädigten Geschäftsräume zur Hauptstraße hin geschlossen blieben, ließ Neu Kaufinteressenten durch den Privateingang ins Haus. Um den Verkauf möglichst unbemerkt abzuwickeln, reichte Neu seine Waren vom Hof des Anwesens, in dem es damals noch Hühnerställe gab und einen herrlichen Blick über den Obst- und Nutzgarten hinweg zu den Burgen, über den Zaun ins Bleichgässchen.

Die „Ordnung” siegte

Das konnte nicht lange geheim bleiben und so sah sich Schutzpolizei-Inspektor Georg Jung, der Leiter der städtischen Polizei, am 25. November 1935 genötigt, den zwei Wochen zuvor in sein Amt eingeführten neuen Weinheimer Bürgermeister Dr. Reinhold Bezler über „Aufläufe bei dem Geschäft des Juden Ferdinand Neu” zu informieren. In dem im Stadtarchiv verwahrten Schreiben berichtete Jung: „Dies führte in den letzten Tagen wiederholt zu großen Aufläufen, so dass die Polizei einschreiten und die öffentliche Ordnung wiederherstellen musste. Teilweise wurden auch Kunden photographiert und die Bilder in einigen Schaukästen öffentlich ausgehängt. Zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung wäre es zweckmäßig, wenn Neu die Auflage gemacht würde, seinen Verkauf einzustellen und seine Waren im Ganzen an einen arischen Unternehmer abzusetzen.” Das Bezirksamt Mannheim verbot Neu wenige Tage später den Einzelverkauf.

Erst Zwangsarisierung …

Von der dem November-Pogrom folgenden Anordnung zur „Zwangsarisierung” jüdischer Geschäfte war auch das Textilhaus Heil betroffen, in dem nach dem Tod des Gründers die Heil-Tochter Tilly zusammen mit ihrem Ehemann Fritz Rapp tätig war. Isaak Heils Witwe Recha verkaufte das Haus Hauptstraße 63, den großen Stolz ihres verstorbenen Mannes, am 15. November 1938 an Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Mayer.

Bittere Ironie: die einst jüdischen Geschäftsräume wurden vom Mannheimer NS-Kampfblatt „Hakenkreuzbanner” bezogen, dem am 30. April 1943 auch die „Weinheimer Nachrichten” zum Opfer fielen.

… dann Deportation in den Tod

Recha Heil wurde am 22. Oktober 1940 zusammen mit ihrer Tochter Tilly, ihrem Schwiegersohn Fritz Rapp und ihrem Enkel Ernst Rapp nach Gurs in Südfrankreich deportiert. Frau Heil fiel, 73-jährig, am 16. Dezember 1940 den unmenschlichen Bedingungen im Lager Gurs zum Opfer, Fritz und Tilly Rapp wurden am 10. August 1942 ins Vernichtungslager Auschwitz transportiert und dort ermordet. Fritz Rapp, der als Schwerkriegsbeschädigter aus dem 1. Weltkrieg heimgekehrt war und bis zur Deportation eine staatliche Rente erhielt, wurde 54 Jahre alt, seine Frau Tilly 40 Jahre. Ihre 13-jährige Tochter Margot, die nach dem 10. November 1938 das Realgymnasium nicht mehr besuchen durfte, hatte mit einem der Kindertransporte, die von jüdischen, christlichen und politischen Verbänden in England als Reaktion auf die Pogromnacht in Deutschland organisiert worden waren, am Jahresende 1939 nach Palästina emigrieren können. Ihr dreijähriger Bruder Ernst wurde, schwer krank, vom französischen Kinderhilfswerk OSE aus dem Lager Gurs befreit.

Ferdinand Neu zog im Februar 1939 mit seiner Familie nach Mannheim. Zusammen mit seiner Frau Hedwig, geborene Rauner, wurde er am 22. Oktober 1940 nach Gurs und am 12. August 1942 nach Auschwitz gebracht und dort ermordet. Ferdinand Neu wurde 64 Jahre alt, seine Frau Hedwig 58 Jahre. Herbert Neu, ihr Sohn, hatte rechtzeitig nach Südafrika auswandern können. Er starb 2002 in Johannesburg im Alter von 94 Jahren.

Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 02.06.2006

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