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10. November 1938

Der Schicksalstag auch für die Weinheimer Juden

In der "Reichskristallnacht" brannte ihre Synagoge und ihre Geschäfte wurden verwüstet

Am 07. November 1938 schießt der 17jährige Herschel Grünspan in Paris auf den deutschen Gesandtschaftsrat Ernst von Rath und verletzt ihn so schwer, dass der Diplomat zwei Tage später stirbt. "Spontan" beginnen in der Nacht zum 10. November im ganzen Reich die Verfolgungsaktionen gegen Juden. Ihre Gotteshäuser werden in Brand gesteckt, ihre humanitären Einrichtungen verwüstet, ihre Geschäfte geplündert. Die sogenannte "Reichskristallnacht" leitet die Verschleppung der Juden in die Konzentrationslger ein - auch in Weinheim.

Seit 1967 erinnert eine Gedenktafel, zunächst am Notariatsgebäude, dann am VHS-Haus angebracht, an die einstige jüdische Gemeinde, die mit 193 Gemeindemitgliedern am 2. August 1906 nach einen Abschlußgottesdienst in der fast 300 Jahre alten Synagoge am heutigen Hutplatz in ihr neues Gotteshaus an der Bürgermeister-Ehret-Straße eingezogen war. Die überwiegend aus Spenden und Opfern finanzierte, mit Gesamtkosten von 41 500 Mark errichtete Synagoge barst in den frühen Morgenstunden unter dem Druck der Sprengkraft von 25 Kilogramm Gelatine Donarit. Gleichzeitig wurden die Schaufenster der jüdischen Geschäfte in der Innenstadt eingeschlagen und aus den Wohnungen jüdischer Bürger flogen Porzellan und Glas, aus dem Haus des Synagogen-Vorstehers David Benjamin sogar ein Klavier auf die Straße. "Kristall"-Nacht im wahrsten Sinne des Wortes.

Weinheims jüdische Gemeinde

Als die Synagoge brannte, hatten 102 jüdische Bürger bereits ihre Heimatstadt verlassen. Die 73 restlichen Weinheimer Juden wurden am 22. Oktober 1940 nach Gurs, am Fuß der französischen Pyrenäen, deportiert. Mit rund tausend jüdischen Bürgern aus anderen badischen Städten und Gemeinden gingen sie den Weg einer schrecklichen Passion.

In der 1964 von der Stadt Weinheim herausgegebenen Dokumentation der Geschichte und des Leidensweges der einstigen jüdischen Gemeinde Weinheim ("Sie waren unsere Bürger", Weinheimer Geschichtsblatt Nr. 26) hat Daniel Horsch an die Namen und Leistungen von Menschen jüdischen Glaubens erinnert, die angesehene und um die Stadt verdiente Bürger Weinheims waren: Die Kommunalpolitikger Dr. Moritz Pfälzer und Max Hirsch in der Fraktion der Demokratischen Partei, Sally Neu, sozialdemokratisches Mitglied im Bürgerausschuss, Hauptlehrer Marx Maier, der 1918 den Kammermusikverein Weinheim gründete und für ihn Hindemith und d'Albert nach Weinheim verpflichtete, die großartige Pianistin Pauline Rothschild, die den 127 Psalm als Chorwerk komponierte, die Textilkaufleute Rothschild und Adolf Braun, der Volksarzt Dr. Hermann Hausmann. Von einer Bedeutung, die bis in unsere Tage nachwirkt, war das Werk, das die Familie Hirsch hinterließ. Es hatte sich nach der Jahrhundertwende zum bedeutendsten Rosslederwerk Europas entwickelt.

Die zeitgenössische Darstellung

Vor diesem Hintergrund, den man mit den Namen der Fruchthändler Altstädter und der Kaufleute Benjamin, Heil, Neu, Oppenheimer, Wetterhahn noch erweitern könnte, muß man bewerten, was Weinheims Bürger am Nachmittag des 10. November 1938 in ihrer Mittagszeitung lasen:

"Als am gestrigen Tag der Deutsche Rundfunk die Trauerbotschaft verkündete, daß der durch feige jüdische Mörderhand getroffene Gesandtschaftsrat I. Klasse, von Rath, den bei dem Pariser Attentat erlittenen schweren Verletzungen erlegen ist, war es für jeden deutschfühlenden Menschen klar, dass diese jüdische Mordtat eine Sühne erforderte. In den frühen Vormittagstunden des heutigen Tages kam es zu spontanen Proteskundgebungen gegen das Judentum. In vielen Fällen musste Schutzhaft über Juden verhängt werden. Die erregte Menschenmenge drang in das Synagogengebäude in der Ehretstraße und zerstörte mit Hilfe einer Sprengladung den Judentempel. Auch bei den jüdischen Geschäften in der Hauptstraße kam es zu Proteskundgebungen und Demolierungen. Die kochende Volksseele hat sich hier Luft geschaffen und wenn die Vergeltung auch gering war, so war sie doch unsausbleiblich für den abermaligen feigen jüdischen Mord, den Alljuda befohlen. Das Weltjudentum mag erkennen, dass kein deutscher Volksgenosse bereit ist, die jüdischen Mordtaten einfach hinzunehmen".

Mit Goebbels'schem Zynismus kommentierte der "Hakenkreuzbanner" die Geschehnisse. Das "nationalsoizalistische Kampfblatt für Nordwestbaden" meinte am 11. November 1938 unter der Überschrift "So mußte es kommen", die Ereignisse hätten "in allen Schichten unseres Volkes tiefste Befriedigung hervorgerufen". Das Verbot weiterer Vergeltungsaktionen durch Goebbels war nach Ansicht des Kommentators Friedrich Karl Haas "nur zu begreiflich", weil es verhindern sollte, "dass deutsches Volksvermögen der Zerstörung anheimfällt. Denn zweifellos handelt es sich bei dem noch in jüdischem Besitz befindliche Vermögen um Nationalvermögen, da es früher oder später auf dem Wege der Gesetzgebung doch in deutsche Hände übergeführt werden wird". Nach Ansicht von Haas "konnten die Juden dankbar sein, von der Welle berechtigter Empörung nicht gänzlich weggefegt worden zu sein". "Interessant" war für den "Hakenkreuzbanner" ein Besuch in Hemsbach: "Dort hatte sich die Empörung der Bevölkerung ebenfalls entladen und die Judenschule wurde zerstört. Welche Angst diese Clique hatte, bewies ihr schüchternes Herumschleichen in den Dorfstraßen, bis man sie vor der Gewalt des Volkes schützte und in Gewahrsam nahm. Ein baumlanger Jude kam uns auf den Knien mit gefalteten Händen entgegen und bat um Schonung. Es ist ihm nichts geschehen".

...aus...aus...

Wichtigster Bericht auf der Weinheimer Seite des "Hakenkreuzbanner" vom 13. November 1938 war eine Darstellung der Themen, über die man sich am vorangegangenen Sonntag in Weinheim unterhalten hatte. Unter dem Zwischentitel: "...aus...aus" konnte man lesen: "Wir erinnern uns noch zu gut der Zeit als die die Hauptstraße beherrschenden jüdischen Geschäfte aus der Vorweihnachtszeit eine Faschingszeit machten. Diese Art und Weise ihres Kitsches hatte nichts mehr mit einem reellen Kaufmannsgebaren zu tun. Geschlossene Rolläden bezeichnen heute die jüdischen Geschäfte. Auch die Firmennamen an den Hausfassaden hat man übertüncht. Ein witziger Malermeister ließ an einem Judenhaus, wo zweimal das Wort Kaufhaus prangte, nur noch die letzten Silben stehen:...aus...aus!

Inzwischen hat der Gesetzgeber mit aller Deutlichkeit gesprochen. Ab 1. Januar 1939 gibt es keine Judengeschäfte mehr. Und auch keine Judenkundschaft mehr. Die Hebräer wären längst von selbst gegangen, wenn nicht deutsche Volksgenossen ihnen die Existenz ermöglich hätten...Nun ist es aus. Aus für immer".

Umstrittene Judengasse

Gesprächsthema scheint an diesem ersten Wochenende nach den Geschehnissen der "Kristallnacht" auch der Name Judengasse gewesen zu sein. Der "Hakenkreuzbanner" meinte: "Wir haben in Weinheim noch eine Judengasse. Juden sind zwar dort keine zu finden, dafür aber rechtschaffene, fleißige Weinheimer Bürger, die schon seit Jahrzehnten einen Kampf führen um die Namensänderung ihrer Gasse. Aus mancherlei Gründen verfielen die vielen Eingaben der Ablehnung. Nun fielen dieser Tage die Straßennamensschilder von selbst herunter. Die Zeit ist gekommen, dass die Judengasse einen anständigen Namen bekommt. Auch ein Weg der nach einem der schönsten Weinheimer Ausflugsziele führt, muss nicht an die Plattfüßler erinnern. Wir glauben, das unser neuer Bürgermeister hier bald eine Änderung eintreten läßt. Kommt die Mischpoke einmal irgendwohin ins Ghetto, dann haben wir bald wieder einen Namen für diese 'Siedlung'. Am liebsten ist es und jedoch, wenn sie für immer verschwindet".

Heinz Keller, am 09.11.1988 in den Weinheimer Nachrichten veröffentlicht.

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