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Die Lederwerke Sigmund Hirsch G.m.b.H., 1868-1938
Erinnerungen von Max Hirsch

Sigmund Hirsch, ein aus Mecklenburg stammender Gerber, pachtete 1867 zusammen mit seinem Schwager Louis Mayer eine Gerberei in einem Gebäude am Diebsloch. Aus ihr ging später die Lederfabrik Hirsch hervor. Die Firma entwickelte sich gut und stand 1908 mit etwa 150 Arbeitern und Angestellten an der Spitze der Rossledergerbereien in Deutschland. Um die Jahrhundertwende errichtete die Firma Hirsch wie schon die Firma Freudenberg neue Produktionsgebäude an der Bahnlinie.
Unter nationalsozialistischen Druck wurde die Firma 1938 liquidiert; die Firma Freudenberg übernahm die Liegenschaften und das Personal. Die Familie Hirsch verließ Deutschland.

Max Hirsch, Urenkel des Firmengründers, erhielt 1990 eine Kopie der Memoiren seines Urgroßvaters. Diese illustrieren eindrücklich die Geschichte der Juden in Weinheim im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aus der Perspektive eines Einzelnen. „Sie sind ein Bericht, der hoffentlich von vielen gelesen und gewürdigt wird”, hoffte Max Hirsch, als er die Memoiren den Bürgern der Stadt Weinheim überreichte, in der Hoffnung, dass der Bericht von vielen gelesen und gewürdigt würde.

Die Lederwerke Sigmund Hirsch G.m.b.H. 1868 – 1938
Erinnerungen von Max Hirsch

Einführung und Widmung an die Stadt Weinheim

Im Jahre 1990 erlebte ich zwei freudige Ereignisse, die glücklicherweise eng miteinander verbunden waren. Zuerst erhielt ich eine Kopie der englischen Übersetzung dieser Memoiren, die mein Großvater schrieb über 50 Jahre her im Exil in Portugal.

Dann erhielt ich eine Einladung von der Stadt Weinheim zum zweiten Treffen der ehemaligen jüdischen Mitbürger in der Woche vom 15. zum 20. April 1991 (das erste Treffen fand im Jahr 1979 statt). Ich habe die Einladung freudig angenommen und das Treffen wurde zur allgemeinen Befriedigung aller Teilnehmer durchgeführt. Die Vorfreude auf das Treffen verstärkte mein Interesse an den Memoiren.

Die Lederwerke Sigmund Hirsch wurde von meinem Urgroßvater, Sigmund Hirsch, im Jahr 1868 in Weinheim als eine kleine Werkstatt gegründet (heute finden wir dort den Sigmund-Hirsch-Platz, zu Ehren des Gründers der Gerberei). Von diesem kleinen Anfang entwickelte sich innerhalb von 70 Jahren die grösste Rosslederfabrik in Deutschland. Sigmund Hirsch starb 1908. Nachfolger waren seine Söhne Max [Hirsch] und Julius [Hirsch], die das Werk bis 1938 weiterführten, bis das Naziregime die Besitzer zwang, die Firma an „Arier” zu verkaufen.

Obwohl ich nie – wie mein Vater, mein Großvater und mein Urgroßvater – den Gerberberuf gelernt habe oder in einer Gerberei beschäftigt war, fand ich die Memoiren faszinierend. Als ich sie las, war ich überzeugt, dass dieses Dokument einen größeren Leserkreis verdient als den kleinen Kreis, für den es ursprünglich bestimmt war – also für die Nachkommen von Max [Hirsch] und Julius [Hirsch] und ihre Ehefrauen, die nach Hitlers Machtübernahme vertrieben wurden, und dann in den Vereinigten Staaten, Argentinien und Australien eine neue Heimat fanden. Die Memoiren sind schon als kommerzielle und technische Geschichte der Ledermanufaktur instruktiv und faszinierend. Aber das Werk ist viel mehr als das und dürfte deshalb auch Leser mit allgemeinen Interessen anziehen. Ja, es ist sogar eine Geschichte im Kleinen der sozialen und politischen Entwicklungen in Deutschland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, gesehen aus der Perspektive eines Industriellen. Schließlich, und auch das ist wichtig, zeigt das Werk die Gefühle eines Mannes, der es verstand, seine Tätigkeit als Geschäftsmann und sein Privatleben zu integrieren. Sein schmerzlichstes Erlebnis war die Begegnung mit den gewalttätigen Nazis, die am 10. November 1938 ihn und andere jüdische Geschäftsleute aus ihren Wohnungen vertrieben und dann im Konzentrationslager Dachau einsperrten. Diese schrecklichen Ereignisse werden in diesem Werk ganz offen beschrieben.

Ich überreiche diese Memoiren den Bürgern der Stadt Weinheim, weil sie einen wichtigen Teil der Geschichte der Stadt darstellen. Sie sind ein Bericht, der hoffentlich von vielen gelesen und gewürdigt wird. Obwohl solch eine große Leserschaft weder vom Verfasser, noch von meinem Vater erwartet wurde, waren meine Mutter Anni Marx Hirsch und ich uns einig, dass der Autor und mein Vater sich sehr gefreut hätten, hätten sie vorausgesehen, dass ihr Bericht auch den späteren Generationen von Weinheim bekannt gemacht würde.
Ich überreiche diese Memoiren auch als einen Tribut für alle Weinheimer, die erkannt haben, welche Ungerechtigkeit der früher einmal so lebendigen jüdischen Gemeinde zugefügt wurde. Ich denke besonders an Daniel Horsch, der zuerst die Stadt auf die frühere Existenz der jüdischen Gemeinde und auf das Schicksal ihrer Mitglieder hingewiesen hat.

Drittens will ich meine Dankbarkeit für Oberbürgermeister Uwe Kleefoot und seine persönliche Referentin, Frau Ulrike Balzer, ausdrücken, die das denkwürdige Treffen in Weinheim planten und leiteten.

Schließlich überreiche ich diese Memoiren zum Gedächtnis meiner Vorfahren Sigmund [Hirsch], Max [Hirsch] und Arthur Hirsch, deren Liebe für Weinheim und für die Ideale der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit so stark war wie ihr Fleiß und ihre Energie als Fabrikanten.

Albert (ehem. Albrecht) Hirsch
Chevy Chase, Maryland USA
Juni 1991

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Vorwort

Wiederholt hatten mein Sohn Arthur [Hirsch] und mein Neffe Fritz [Hirsch], zu einer Zeit, als wir noch im Besitze unseres Werkes waren, die Bitte an mich gerichtet, ich möchte die Geschichte unserer Firma schreiben.
Wieviel mehr noch haben wir jetzt, nachdem eine verbrecherische Regierung uns aus unserer Heimat vertrieben hat, die Pflicht, uns und unseren Nachkommen die Erinnerung an die Stätte zu erhalten, die sich in sieben Jahrzehnten zu dem führenden deutschen Spezialbetrieb der Rosslederfabrikation entwickelt hatte.

Ich bemühte mich, alles wiederzugeben, was sich aus den lebendigen Schilderungen meines Vaters in mein Gedächtnis eingeprägt hat und was ich selbst zuerst während der Schulzeit, in der die Gerberei ein beliebter Tummelplatz für unsere Spiele war, und dann von meiner Lehrzeit an, während sechzig Jahren erst beobachtet und dann miterlebt hatte.
Gar schwer fielen mir die ersten Wochen, meines Aufenthaltes im fremden Lande. An meine tägliche, regelmäßige Beschäftigung und an die vielseitigen Anregungen, die ein Fabrikbetrieb mit seinen technischen, kaufmännischen und sozialen Aufgaben bietet, gewöhnt, war mir die aufgezwungene Untätigkeit eine Last. Umso dankbarer war ich meiner Frau [Flora Hirsch] und meinen Töchtern Liesel [Elisabeth Mina Hirsch] und Marianne [Hirsch], als sie mich während unseres Sommeraufenthaltes in Estoril an die Bitte unserer Junioren erinnerten. Ich habe mich erst zögernd, dann aber mit Eifer und Liebe an die Arbeit gemacht, der ich Monate hindurch viele genussreiche Stunden zu verdanken hatte.

Da mir keinerlei Unterlagen zur Verfügung standen, musste ich in meinen Ausführungen auf die Wiedergabe genauer Zahlen verzichten, trotzdem glaube ich, dass es mir gelungen ist, ein umfassendes Bild der Entwicklung von einer kleinen Handwerkstätte zum namhaften Fabrikbetrieb gezeichnet zu haben.

Lissabon, April 1940
[Max Hirsch]

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[S. 3:]
[...] Seine [Sigmund Hirsch] Reise, die er größtenteils auf Schusters Rappen zurücklegte, führte

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ihn über den Brenner nach München und Nürnberg, und von da über Schwäbisch Hall, Backnang nach Heidelberg. Hier in der schönen Neckarstadt konnte er nicht nur bei dem Lederhändler und Zurichter Schwarzbeck eine ihm zusagende Arbeit, sondern bald auch eine Vertrauensstellung finden. Die herrliche Gegend und das gemütliche süddeutsche Wesen gewannen bald das Herz des norddeutschen jungen Mannes, und so war es nicht verwunderlich, dass er unter diesen Menschen nicht nur innerhalb seiner Fachgenossen Freunde gewann, sondern auch Anschluss an jüdische Familien fand, denen er durch seinen jahrelangen ausschließlichen Verkehr in christlichen Kreisen, angefangen mit der Lehrzeit und während der Wanderjahre, entfremdet war. Bei Sigmund Oppenheimer, dessen Manufakturgeschäft sich am Marktplatz und in unmittelbarer Nähe seiner Arbeitsstätte befand, war er ein gern gesehener Gast und in seinem Hause sollte er auch bald das Glück finden, seine künftige Lebensgefährtin kennen zu lernen. Trotz seines jugendlichen Alters von erst 22 Jahren, jedoch gefestigt durch sein berufliches Können und getrieben von der Sehnsucht, Sophie Oppenheimer bald sein Eigen nennen zu dürfen, fasste er den Plan, in Süddeutschland zu bleiben und die erste sich bietende Gelegenheit zur Errichtung eines eigenen Geschäftes wahrzunehmen. Einer seiner Freunde, Gerber wie er, der Sohn des Bürgermeisters Fild in Weinheim, forderte ihn auf, mit ihm die Weinheimer Kirchweih zu besuchen und hier geschah es, dass er auch einem Spaziergang nach der Burg Windeck zum ersten Mal die Stätte seines künftigen Wirkens erblicken sollte. Oft erzählte er uns Kindern von jenem denkwürdigen Spaziergang und dem unvergesslichen Eindruck, den er von dem Anblick des zu seinen Füssen liegenden Städtchens gewonnen hatte. Eingebettet zwischen bewaldeten Höhen und Rebbergen und der weit ausgedehnten, von Obstbäumen bestandenen Rheinebene, sah er Weinheim, teilweise noch umgeben von altertümlichen Ringmauern und Türmen, mit seinen eng sich aneinander schmiegenden Häuschen, den schmalen verwinkelten Gassen, und den unmittelbar am Fuße des Schlossberges gelegenen Gerbereien, deren von Lohkäserahmen umgebenen Lohhöfe die Buntheit der Landschaft um eine weitere Nuance bereicherten. Das ganze Bild, belebt durch den Lärm der vom Städtchen heraufklingenden emsigen Betriebsamkeit, übten auf den Be-

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schauer einen seltsamen Reiz aus. Diese Stimmung wahrnehmend, meinte sein Freund, dass eine dieser Gerbereien verkäuflich sei. Die Inhaber und Brüder, Fritz und Albrecht Krafft, waren wohlhabende, angesehene und alt eingesessene Weinheimer Bürger. Fritz hatte keine Kinder und Albrechts Söhne fanden keinen Gefallen an dem väterlichen Beruf. Die Kraffts verarbeiteten nach altem Brauch ihre Sohl- und Oberleder aus den Rindhäuten und Kalbfellen, welche sie von ihren Metzgern bezogen, und in ihren eigenen Läden an die Schumacher und Sattlermeister der Stadt und Umgebung verkauften. Auch die zur Gerbung ausschließlich verwendete Eichenrinde wurde aus den zahlreichen staatlichen Forsten und Gemeindewaldungen des Odenwaldes und der Bergstraße bezogen. Das Betriebswasser, der Grundelbach, aus dem Buntsandsteingebirge des Odenwalds kommend, war besonders weich und für den

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[S. 12:]

Beginn

Bald setzte sich Sigmund Hirsch mit den Besitzern Krafft in Verbindung, und wie die Zunft durch ihre Jahrhunderte alte Tradition ein natürlicher Quell des gegenseitigen Vertrauens und Verstehens gewesen ist, so war es selbstverständlich, dass die alten Meister Krafft sehr schnell Freunde des jungen, aufstrebenden Fachgenossen geworden sind. Man befand sich in jenem liberalen und humanitären Zeitalter, das insbesondere in dem Musterländchen Baden mit seiner freien Verfassung keinen Unterschied kannte und wollte, so dass die Frage, ob Christ oder Jude, ihre Bedeutung zumindest einem Handwerksmeister und Mann wie Sigmund Hirsch gegenüber gänzlich verloren hatte. Bald war ein Abkommen getroffen worden, und die Gerberei Krafft wurde zunächst mit Verkaufsrecht gepachtet. Am 14. Januar 1868 verlobte sich Sigmund Hirsch mit Sophie Oppenheimer im Hause des Bruders der Braut, Sigmund Oppenheimer, und bereits am 22. Februar des gleichen Jahres wurde mit der Einarbeitung von Rosshäuten begonnen. Wohl wurde auch von den hier ansässigen Gerbern hie und da eine Rosshaut mitgearbeitet, die dann nach Verwendung des Schildes zu Brandsohlleder geschwärzt an die Sattler verkauft wurde. Aber Rossleder als Spezialität und ausschließlich zu arbeiten, war eine Neuerung, die bei den Kollegen lebhaftes Kopfschütteln hervorrief. Auch der Geruch der Rosshäute, die zu jener Zeit nur von eingegangenen Tieren stammten, fand nicht ihren Beifall. Sonst bestand in der Arbeitsmethode kaum ein Unterschied zwischen den verschiedenen Oberlederarten und maßgebend für den Arbeitsgang und die Gerbung waren alt überlieferte Regeln und Vorschriften.

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Der Gerbermeister Sigmund Hirsch

[...] Am 14. Juli 1868 wurden Sigmund Hirsch und Sophie Oppenheimer in Heidelberg getraut, und die Hochzeitsreise zu den Eltern

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Hirsch nach Neukalen unternommen, wo die junge Frau von Eltern und Geschwistern mit offenen Armen und großer Herzlichkeit aufgenommen worden ist. Das Vermögen der beiden bestand aus Mutters Erbteil von 3000 Gulden und der Vater erhielt von seinen Eltern eine Mitgift von 500 Thalern. Mit diesen etwa 4000 Gulden Betriebskapital musste der Vater sich bescheiden, aber es gelang ihm, da er in dem kleinen Handwerksbetrieb alle wichtigen Hantierungen selbst ausführte, alles gegen Kasse verkaufte, und nur einen Taglöhner zu entlohnen hatte. Die Mutter besorgte die Buchhaltung und sonstige Schreibarbeiten, und so glückte es den Eltern, schon nach Ablauf des ersten Geschäftsjahres einen Gewinn verzeichnen zu können. Dass nach diesem Erfolg der vorwärtsstrebende, von einem unverwüstlichen Selbstvertrauen beseelte Vater daran denken musste, seinen Betrieb so gut als möglich auszuwerten, war begreiflich, es fehlte ihm jedoch hierzu das erforderliche Betriebskapital, zudem war die Mutter durch Hausfrauen- und Mutterpflichten nicht mehr in der Lage, die sich häufenden Büroarbeiten zu bewältigen. Ihre ältere Schwester Karoline Mayer wohnte in Lützelsachsen und war verheiratet mit dem Kaufmann Louis Mayer, der dorten einen Handel mit Landesprodukten betrieb. Mayer, ein nach den damaligen Begriffen wohlhabender Mann, bot gerne seine Mitarbeit an, widmete sich zunächst den erforderlichen kaufmännischen Arbeiten. Schließlich einigten sich beide Schwäger auf eine Assoziation mit gleicher Beteiligung unter der Firma Hirsch & Mayer.

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[S. 39:]

Familienereignisse

Als bemerkenswerte Familienereignisse jener Zeit sind zu erwähnen:
1890, Pfingsten: Vermählung meiner Schwester Rosa Hirsch mit Moritz Emanuel Rothschild, Teilhaber der Firma Gebr. Rothschild in Bensheim, ab 1893 unter der gleichen Firma alleiniger Inhaber eines Kaufhauses in Heidelberg.
[...]
1895, 10. Mai: Unerwartetes Hinscheiden meiner Schwester Rosa Hirsch an den Folgen einer Blinddarmentzündung. Dieser schwere Verlust der erst 28 Jahre alten Frau und Mutter von 4 Kindern war für den Gatten und unsere ganze Familie ein großer Schmerz. Des Vaters ledige Schwester Dora Hirsch (Tante Doring) übernahm die Führung des Haushaltes und die Pflege der Kinder, und im Juli 1897 trat meine Schwester Ida [Hirsch] an ihre Stelle, erfüllt von Zuneigung zu dem vom Schicksal so schwer geprüften Manne, aber auch von einem hohen und edlen Pflichtgefühl, den Kleinen die Mutter zu ersetzen.
1897, 14. Juli: Meine Hochzeit mit Flora Altschul. Aus meiner Freundschaft mit der Familie Altschul, welche seit meinen beiden 8wöchigen Reserveübungen in den Jahren 1893 und 1894 beim Infanterie-Regiment 25 in Rastatt bestand, eine Freundschaft, die aber

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schon bei den beiderseitigen Eltern vorhanden war, entwickelte sich meine Neigung zur Tochter Flora [Altschul], die Weihnachten 1896 zur Verlobung führte. Julius [Hirsch], der 1890 bei Gebr. Rothschild in Bensheim seine Kaufmannslehre begonnen hatte, nahm nach beendigter Lehrzeit eine Stellung in der Manufakturgroßhandlung Peserthal & Co. in Frankfurt am Main an und trat, wie schon an anderer Stelle erwähnt, nach erfolgter Trennung von Hirsch & Mayer in das väterliche Geschäft ein. Im Jahre 1900 verheiratete er sich mit Mary Simon aus Mainz, einer Cousine meiner Frau.
1900: Sigmund Hirsch wird mit offiziellem Eintritt von Max [Hirsch] und Julius [Hirsch] oHG (Offene Handelsgesellschaft).

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40jähriges Jubiläum – Ableben der Eltern

Meine Aufgabe, des Vaters Werdegang getreu seinen Schilderungen und aus eigenem Erleben den Nachkommen zu überliefern, kann an dem Jahre 1908 nicht vorübergehen, ohne diesem so denkwürdigen und an Ereignissen schweren Jahr ein besonderes Kapitel zu widmen. Am 22. Februar 1908 waren 40 Jahre abgelaufen, seitdem der Vater sein Werk in Weinheim begonnen hatte. Es wurde ein Jubeltag, nicht nur für den Vater und die ganze Familie, er wurde auch für die ganze Belegschaft, die ihrem „alten Herrn” ihre Huldigung darbieten wollte. Unter Führung von Werkmeister Philipp Gräber, dem ältesten Werksangehörigen und treuen, ergebenen Diener seines Herrn, bewegte sich am Vorabend ein Fackelzug vom „Schwanen” nach der väterlichen Villa. Der Gesangverein „Frohsinn” (Gräbers Schöpfung und fast ausschließlich aus Hirsch’schen Lederarbeitern bestehend) entbot seinen Sängergruß, und eine Huldigungsansprache wurde gehalten, der der Vater mit herzlichen, bewegten Worten dankte. Der 22. Februar war Betriebsfeiertag, aus dem 1. Obergeschoss des Bariébaus war ein mit Blumen und Grün geschmückter Festsaal entstanden, in dem sich bei einem gemeinsamen Essen der Jubilar, die Familie, zahlreiche Verwandte und Freunde mit der ganzen Belegschaft zu einer Festgemeinschaft vereinigten. Über den Verlauf des Festtages und die zahlreich gehaltenen Reden berichtet eine von Sophie Rothschild verfasste Festschrift, die sich in meinem Archiv befindet. Gar oft muss ich noch an diesen Freudentag zurückdenken, dem die Eltern in voller Rüstigkeit bewohnen konnten, beide erfüllt von einem Gefühl des Glücks und stolzer Genugtuung, umgeben von Kindern, die in Liebe und Dankbarkeit zu ihnen

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aufblickten, geachtet und geehrt von ihren Mitmenschen. Angestellte und Arbeiter feierten in dem Vater das Beispiel eines Arbeitgebers, der immer „Meister” in seinem Betrieb geblieben war, sich vor keiner Arbeit gescheut hatte, und wenn es galt, jetzt noch seinen Leuten zeigen konnte „wie es gemacht und geschafft werden muss”. Sein Mitarbeiten in jungen Jahren, als er noch selbst in ihren Reihen stand, war nicht vergessen worden, und jeder sah und achtete in ihm auch den früheren Mitarbeiter, welcher seinen Beruf von der Pike auf gründlich gelernt hatte. Mancher der zahlreich vertretenen alten Arbeiter war noch selbst von ihm angelernt worden, und so hatte sich seine Art zu arbeiten, beseelt von seinem Geiste, auf den größten Teil der Belegschaft übertragen, die von einem Korpsgeist erfüllt, den Stolz über den Aufstieg des Werkes mit ihren Herren teilten. Wie wenige verstand es der Vater, sich in die Gedanken und in die Seele des Arbeiters einzufühlen, und wo er es für notwendig hielt, zu helfen. Er wusste genau, wem er vertrauen konnte, und oft gab er dem einen oder dem anderen ein Darlehen, das in kleinen Raten, manchmal auf Jahre verteilt, zinslos abverdient wurde, womit sich mancher ein Häuschen bauen oder einen Acker oder Wingert anschaffen konnte. Als Beweis, wie sehr sein soziales Empfinden auch in der Öffentlichkeit geschätzt wurde, mag dienen, dass das Bezirksamt im Jahre 1890, nach Einführung der obligatorischen Krankenversicherung, keinen besseren als Sigmund Hirsch für die Übernahme des Vorsitzes der neuen Ortskrankenkasse finden konnte. Es war daher nicht verwunderlich, dass noch ein patriarchalisches Verhältnis bestand, als außerhalb schon eine anders gerichtete, politische Einstellung Platz gegriffen hatte. Der Abschluss dieses 40jährigen, erfolggekrönten Schaffens war in feierlichen Akkorden der Freude und Dankbarkeit ausgeklungen, aber bald nachher zeigte es sich, dass ein unerbittliches Geschick die nächste Zukunft anders gestaltete, als wir Jungen sie in unserem selbstverständlichen Optimismus zu sehen wähnten. Für Julius [Hirsch] und mich, die wir Hand in Hand mit dem Vater arbeiteten, war es unbestritten, unter seiner Führung zu marschieren, an die Möglichkeit, einen entscheidenden Schritt ohne sein Urteil oder sein Einverständnis

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zu unternehmen, dachten wir nie. Schon im Frühjahr 1908 zeigten sich beim Vater die ersten Anzeichen einer ernsten Erkrankung. Es musste ein Spezialarzt zu Rate gezogen werden, der eine Sanatoriumsbehandlung anordnete. Nach mehrwöchentlicher sorgfältiger Pflege im Sanatorium des Dr. Pariser in Homburg trat eine Verschlimmerung ein, die eine sofortige Operation beim 1. Frankfurter Chirurgen Prof. Pinner erforderte. Unser treuer Freund und Hausarzt Dr. Hausmann wohnte der Operation bei, leider konnte sie den Vater nicht mehr retten, er starb am 24. August 1908 und wurde, seinem Wunsche entsprechend, auf dem israelitischen Friedhof in Heidelberg beigesetzt. Zahlreiche Freunde und Verehrer, die ganze Belegschaft, die Friedrichsloge Heidelberg, deren Mitbegründer er war, die israelitische Gemeinde Weinheim, die ihren tatkräftigen Vorstand und den Erbauer der neuen Synagoge betrauerte, folgten seinem Sarge und widmeten ihm warme Nachrufe. Sein Hinscheiden riss eine tiefe Lücke in unser familiäres und geschäftliches Gemeinschaftsleben, die arme Mutter, schon leidend geworden bei der Erkenntnis der schweren Erkrankung ihres Gatten, mit dem sie 40 Jahre einer selten glücklichen Ehe geteilt hatte, sahen wir trotz aufopferndster Pflege in den folgenden 5 Monaten wie eine geknickte Blume dahinwelken, und der 19. Januar 1909 brachte ihr eine milde Erlösung von ihrem Herzeleid. An der Seite ihres Gatten fand sie die ewige Ruhe.
Ich übernahm dem testamentarisch ausgesprochenen Willen der Eltern zufolge das Wohnhaus (xxx) [Bergstrasse 6] (xxx), dessen Parterrewohnung die Eltern bisher innehatten, während ich mit meiner Familie das Obergeschoss bewohnte. Da es mir widerstand, die elterliche Wohnung an Fremde zu vermieten, zog ich es vor, das Haus zur Einfamilienwohnung umzubauen. Dem seit über 23 Jahren im Besitz der Familie stehenden Haus, das den Eltern ein lieb gewordenes Heim gewesen ist, in dessen Garten so viele Bäume vom Vater selbst gepflanzt und gehegt worden waren, wollte ich tunlichst seinen baulichen Charakter erhalten, da ich es als Symbol engster Verbundenheit mit der Heimat und als eine mir von den Eltern überantwortete Gabe ansah.
Die Firma wurde von Julius [Hirsch] und mir in unveränderter Form als offene Handelsgesellschaft mit je hälftiger Beteiligung weitergeführt, die Auseinandersetzung des

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elterlichen Vermögens zwischen Julius und mir und unserem Schwager Rothschild konnte dem Wortlaut des elterlichen Testaments entsprechend in freundschaftlichstem Geiste geordnet werden, und das auf unsere Schwester Ida [Hirsch] wie auf die Kinder unserer verstorbenen Schwester Rosa Rotschild entfallende Erbe wurde innerhalb kurzer Zeit ausbezahlt.

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Max Hirsch, Gemeinderat

Im Jahre 1912 wurde ich als Vertreter der liberalen Gemeindepartei, der ich seit 1909 als Nachfolger des Vaters und als Mitglied des Bürgerausschusses angehörte, in den Gemeinderat der Stadt Weinheim gewählt. Obgleich ich mich bewusst vom politischen Leben ferngehalten hatte, dem Grundsatz huldigend, seine Zeit und seine Kraft dem Geschäfte und der Familie zu widmen und im öffentlichen Leben Zurückhaltung zu üben, konnte ich mich dem Drängen maßgebender bürgerlicher Kreise nicht länger entziehen und die mir angebotene Kandidatur zum Gemeinderat nicht ablehnen. Es war in dem Weinheim der letzten Jahrzehnte Übung gewesen, dass die führenden Industriellen, wie Freudenberg, Hildebrand und Platz neben den Vertretern des Mittelstandes und der Arbeiter im Gemeinderat vertreten waren. Da wir (die Firma Hirsch), nachdem Hildebrand verzogen und Platz verstorben war, neben Freudenberg das größte industrielle Unternehmen am Platze inne hatten, sah man es ohne weiteres als selbstverständlich an, mir einen Gemeinderatsitz anzubieten. Es war eine recht interessante und anregende Tätigkeit, mich neben meinen beruflichen Pflichten diesem Amt zu widmen, das mir den Einblick in manche Verhältnisse und Geschehnisse gestattete, an denen man bisher oft achtlos vorübergegangen war. Trotz verschiedenartiger politischer Einstellung herrschte in dem Kollegium ein angenehmes, verträgliches Verhältnis, und es kam, im Gegensatz zu den öffentlichen Sitzungen des Bürgerausschusses, wo vielfach „zum Fenster hinaus” geredet wurde, nur selten zu scharfen Auseinandersetzungen. Die Steuereingänge der Stadt waren dank der glänzenden Wirtschaftslage recht bedeutend, so dass mancherlei für soziale Aufgaben (Verbesserung der Wohnverhältnisse, Sanierung der alten Stadtteile), für Wohlfahrt und auf kulturellem Gebiet geleistet werden konnte. Man war überzeugt, dass dieser als natürlich und selbstverständlich empfundene Fortschritt einer normalen Entwicklung zum weiteren Aufstieg der Menschheit entspreche, und konnte weder daran denken noch glauben, dass man an der Schwelle

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einer der größten Katastrophen der Geschichte stand. Selbst als der politische Horizont sich zusehends verfinsterte, glaubte man nicht an die Möglichkeit einer kriegerischen Auseinandersetzung.

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50jähriges Firmenjubiläum

Das 50. Gründungsjahr der Firma wurde am 22. Februar 1918 in dem gleichen Raume wie vor 10 Jahren festlich begangen. Unter Berücksichtigung der Zeitverhältnisse wurde die Feier in schlichtem Rahmen abgehalten. In einer einstündigen Arbeitspause hielten Julius [Hirsch] und ich um 11 Uhr vormittags Ansprachen an die versammelte Belegschaft, in denen mit einem Rückblick auf den leider zu früh verstorbenen väterlichen Gründer und die weitere Entwicklungsgeschichte der Firma, insbesondere aber der zu beklagenden Verluste von über 40 Mitarbeitern gedacht und deren Namen verlesen wurden. Als Beweis und Anerkennung für die Verbundenheit mit unseren Betriebsangehörigen stifteten wir an diesem Tage eine Dienstprämie, die jedem Arbeitnehmer im Alter von 20 Jahren aufwärts, nach einer 5jährigen Tätigkeit, einen Betrag von 1.000 Mark gutschrieb, der mit 5% verzinst und nach 25 Jahren oder bei vorher eintretender Invalidität oder bei Tod dem Arbeiter bzw. seinen Hinterbliebenen ausbezahlt werden sollte. Nach Ablauf der ersten 25 Jahre sollten

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weitere 1.000 Mark gutschrieben werden. Eine Anzahl der älteren Leute fiel bereits unter die 2. Quote. Die Stiftung entsprach an diesem Tage einer Summe von nahezu 90.000 Mark. Außerdem spendeten wir der Stadtgemeinde für Wohlfahrtszwecke 20.000 Mark. Neben zahlreichen Glückwunschschreiben, Blumen und sonstigen Spenden überreichte uns eine Vertretung der israelitischen Gemeinde eine Ehrenplakette mit den Reliefportraits von Julius und mir, angefertigt von Bildhauer Elkan, eine Delegation des Gemeinrates mit Bürgermeister Dr. Wettstein sprach uns die Glückwünsche der Stadt aus, und im Auftrag des Bad. Ministeriums gratulierte Stadtminister [Anm.: = Staatsminister] von Bodman in einem Handschreiben. Auch über diesen Gedenktag befindet sich eine von Frl. Sophie Rotschild verfasste Festschrift in meinem Besitz.

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Kriegsende und Einiges über die 3. Generation

Bei dem guten brüderlichen Verhältnis, das zwischen Julius [Hirsch] und mir bestand, war es selbstverständliches, zunächst stilles Übereinkommen, dass später einmal je einer der Söhne als Nachfolger in das Geschäft eintreten solle. Arthur [Hirsch] als der Erstgeborene war bereits in den Augen seines Großvaters Sigmund [Hirsch] der zukünftige Gerber, und er selbst wusste schon als heranwachsender Junge nie anders, als dass er den väterlichen Beruf zu ergreifen habe. Julius’ [Hirsch] Ältester, Arnold [Hirsch], zeigte schon früh Neigung zu einem wissenschaftlichen Beruf, so dass zunächst nur der zweite Sohn Fritz [Hirsch] für eine Nachfolge in Frage kam, der sich später auch noch Kurt [Hirsch] zugesellen sollte. Hierüber berichte ich später. Bald nach Absolvierung des Weinheimer Realgymnasiums im Sommer 1916 trat Arthur [Hirsch] bei meinem Fachschulkameraden Stecher in Freiberg in die Gerberlehre ein. Durch die bereits im Jahre 1916 bestehenden schlechten Ernährungsverhältnisse, die in dem als arm bekannten sächsischen Erzgebirge besonders stark fühlbar waren, zog sich Arthur [Hirsch] eine Darminfektion zu, die seine Rückkehr in die Heimat veranlasste. Inzwischen wurde verlautbart, dass sein Jahrgang 1898 demnächst zum Heeresdienst eingezogen werden sollte.

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Arthur [Hirsch] , der sich von Anfang an im Klaren war, dass für den Leiter einer Lederfabrik zunächst

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wohl eine gute praktische Ausbildung, dann aber auch eine gründliche Hochschulbildung erforderlich sei, begann seine Studien auf der Technischen Hochschule in Darmstadt, studierte auch einige Semester in München und kehrte zu Professor Stiassny nach Darmstadt zurück, um daselbst sein Studium in dem Gerbereiwissenschaftlichen Institut der Technischen Hochschule abzuschließen.

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Ohne Zweifel war es für die Entwicklung und den Bestand der Firma von Wichtigkeit und eine Kraftquelle, dass wir Brüder schon aufgrund unserer Ausbildung unsere Arbeitsgebiete getrennt hatten, wodurch Reibungsflächen vermieden wurden und jeder in der Lage war, sich selbständig und mit voller Energie seinem engeren Wirkungskreis zu widmen. Es wäre jedoch verfehlt, hieraus den Schluss zu ziehen, dass jeder eigenwillig seinen Weg ging. Wir hatten uns so aufeinander eingespielt, dass keiner einen wichtigen Schritt unternahm, ohne ihn mit dem anderen beraten zu haben, auf diese Weise kam es nur selten zu Meinungsverschiedenheiten oder gar ernsten Auseinandersetzungen. Trotz lebhaftestem Interesse, das jeder für das Arbeitsfeld des anderen an den Tag legte, war es Regel eines selbstverständlichen Taktgefühls und der Geschäftsraison, dem anderen nicht hineinzureden. Dies erhielt und steigerte die Berufsfreudigkeit, so dass auch in Zeiten der äußersten politischen und wirtschaftlichen Unruhe der Aufstieg des Unternehmens nicht aufgehalten werden konnte.

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Die Junioren

Ende 1925 beendigte Arthur [Hirsch] nach Ablegung seines Diplom-Ingenieur-Examens seine Studien, kehrte dann für einige Monate in die Praxis nach Weinheim zurück und unternahm im Frühjahr 1926 eine Reise nach den Vereinigten Staaten. Mittlerweile hatte auch Fritz Hirsch sein juristisches Studium in Frankfurt mit dem Doktor-Diplom abgeschlossen, ein längerer Aufenthalt in London sollte ihn in den kaufmännischen Beruf einführen und die Erlernung der englischen Sprache ermöglichen, während Julius’ [Hirsch] dritter Sohn Kurt [Hirsch] nach Absolvierung des Weinheimer Gymnasiums eine Handelsschule in Lausanne besuchte und dann seine praktische kaufmännische und technische Lehre in einer mittelgroßen Offenbacher Schuhfabrik beendigte. Im Anschluss hieran fand er eine Anstellung bei der damals führenden Hausschuhfabrik Golo, wo ihm Gelegenheit geboten war, sich auf dem Gebiet der Hausschuhfabrikation wertvolle Kenntnisse zu erwerben.

[S. 130:]

Eintritt der Junioren in die Firma

Arthurs [Hirsch] Eintritt in die Firma und seiner Vermählung mit Annie Marx im Jänner 1927 folgte alsbald auch Fritz Hirsch, zunächst um den kaufmännischen Betrieb der Firma kennenzulernen und erst später, nach einem halbjährigen Amerikaaufenthalt endgültig in die Firma einzutreten. Arthur [Hirsch] wurde zum stellvertretenden Geschäfts-

[S. 131:]
führer ernannt.

[S. 154:]
Schon immer schlummerte in einem Teil des deutschen Volkes gegenüber der kleinen jüdischen Minderheit eine instinktive Abneigung, die eine durch Jahrhunderte alte Unterdrückungsmethode hervorgerufene, anders geartete Berufsschichtung der Juden als Ursache haben mag. Es war von jeher ein billiges Mittel, in schlechten Zeiten einen Sündenbock auf Seiten des geringsten Wider-

[S. 155:]
standes zu finden, um die Aufmerksamkeit einer unzufriedenen oder in Not geratenen breiten Masse auf die Juden abzulenken.

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[S. 168:]

Die Nürnberger Gesetze

[S. 169:]
Die Juden wurden damit ihrer Bürgerrechte beraubt und aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen. Entsetzt über diesen Schlag ins Gesicht war unser unmittelbares Gefühl, in diesem schandbaren Land unter einer solcher Atmosphäre nicht mehr leben zu können. Sicher wäre dies auch die einzig richtige Folgerung gewesen, aber eine unwiderstehliche Macht hielt uns noch von diesem äußersten Schritt zurück. Mit allen Fasern des Herzens an der Heimat hängend, siegte nochmals eine trotzige Beharrungsenergie über alle anderen Erwägungen, wähnend, dass schließlich doch noch die Vernunft über den Wahnwitz siegen müsse. Nur einer unserer Junioren zog seine Konsequenzen, Kurt [Hirsch], der infolge einer Denunzierung eine 8tägige Haftstrafe absitzen musste. Trotz der Fürsprache des Ministeriums hatte es die Partei unter gewissen Einflüssen erzwungen, dass die Strafe nicht in eine Geldstrafe umgewandelt werden konnte. Wir übertrugen Kurt [Hirsch] nach seinem Austritt aus der Firma die Generalvertretung für den Export, mit dem Wohnsitz in Brüssel, von wo aus er, intensiver als bisher, die bedeutenden Absatzgebiete Holland, Belgien und die skandinavischen Länder bearbeiten und ein neues interessantes Absatzfeld, Südafrika, gewinnen konnte.

Bald aber folgten weitere Gemeinheiten als logische Folge der Rassengesetze, unter denen wir die Ausschaltung der Juden aus dem Heeresdienst als besonders verletzend empfinden mussten, wie auch nicht unerwähnt bleiben darf, dass auf dem in Weinheim errichteten Erinnerungsmal der Kriegsgefallenen auf höheren Befehl von Berlin die Namen der fünf gefallenen Weinheimer Juden unterschlagen wurden, sie durften an der Ehrung durch ein treues Gedenken nicht teilhaben. Bessere Beweise für den fortschreitenden Erfolg eines zur Methode gewordenen Irrwahns bedur-

[S. 170:]
fte es nicht mehr [...].
War es auch nicht ein Fehler, dass man sich einseitig nur auf einen Betrieb in Deutschland festlegte, anstatt dem Beispiel anderer deutscher Unternehmen zu folgen und Filialbetriebe im Ausland zu gründen oder sich an bestehenden Geschäften zu beteiligen und diese nach deutschen Methoden zu modernisieren ?

[S. 179:]

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Drangsalierungen, Pogrom, Dachau

Die Ende April 1938 abgegebene Vermögensaufstellung der Juden, bei der man zunächst noch im Unklaren war, ob sie lediglich nur zu statistischen Zwecken oder zu einer judenfeindlichen Propaganda ausgewertet werden solle, der Einmarsch in Österreich und seine verheerenden Folgen für die zahlreiche Wiener Judenschaft waren Ereignisse, die nur allzu bald zeigten, was man mit den Juden in Deutschland plante; man hatte sie nur deshalb

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aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen und Einsichtnahme in ihre Vermögensverhältnisse gefordert, um sie alsbald nachher bedenkenlos ausräubern zu können. Die Ermordung des jungen Botschaftssekretärs v. Rath durch den jungen polnischen Juden Grünspan bot den Auftakt zu einem Pogrom, der bis auf die kleinste Einzelheit vorbereitet und durchorganisiert am Morgen des 10. November 1938 in ganz Deutschland schlagartig einsetzte und seinesgleichen nur im finsteren Mittelalter finden konnte. Eine von den Drahtziehern dieses Verbrechersystems organisierte „kochende Volksseele” stürmte allerorts jüdische Geschäfte und Wohnungen, zerstörte und stahl, was nicht niet- und nagelfest war, und verwüstete und verbrannte ausnahmslos in ganz Deutschland die jüdischen Gotteshäuser. Wir alle, mein Bruder [Julius Hirsch], ich und Arthur [Hirsch] , wurden früh morgens verhaftet, nachdem noch eine Haussuchung vorgenommen worden war. Unsere Weinheimer Synagoge wurde unter lauter Detonation mit Dynamit gesprengt, und als wir wie Verbrecher abgeführt im Haftlokal anlangten, fanden wir dort sämtliche Männer der Weinheimer jüdischen Gemeinde bereits als Häftlinge vor. Ein Lastauto beförderte uns zunächst unter dem Gejohle einer ortsfremden Meute vor die zerstörte Synagoge, um uns recht drastisch das Ende unserer Gemeinschaft vor Augen zu führen. Von hier aus ging der Transport unter Gestapo-Begleitung nach dem Landesgefängnis Mannheim, woselbst wir, je 4-5 Mann, in eine Zelle eingeschlossen wurden. In den Abendstunden mussten die dort Inhaftierten zum Weitertransport antreten, und dabei zeigte es sich, dass unterschiedslos sämtliche Juden aus Mannheim und Umgebung, darunter auch Fritz Hirsch, verhaftet worden waren. Wir wurden in Autos an den Bahnhof befördert und unter polizeilicher Bewachung nach dem für Baden vorgesehenen Sammelplatz Karlsruhe befördert. Ganz unerwartet wurden dorten sämtliche Leute über 60 Jahre herausgerufenen, und wie es sich bald herausstellte, sollten diese älteren Leute aus dem Transport abgesondert und wieder in die Heimat zurückbefördert werden. Nur die Vorstände und Beamten der Kultusgemeinden und kultureller

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Vereine wurden festgehalten, und ganz überraschend als letzte wurden Julius [Hirsch] und ich von dem Weinheimer Gestapomann K. herausgerufen, der offenbar zu diesem Zweck an der Fahrt nach Karlsruhe teilgenommen hatte, um uns mit dem Transport nach einem unbekannten Ziel und wie es sich unterwegs bald herausstellte, nach Dachau bringen zu können. Das war W. Rs. Rache.
Soll ich über unsere Erlebnisse in dem in der Geschichte unserer Gegenwart so verrufenen Ort berichten, da ohnedies unsere Söhne alles selbst miterlebt und erduldet haben ? Ich habe mir die Frage wiederholt vorgelegt und bin zum Schluss gelangt, dass es doch richtig und gut sei, unseren Kindern und Enkeln zu erzählen, wie mit uns vor dem Verlassen unserer Heimat umgesprungen worden ist. Am Morgen des 11. November in Dachau angekommen, übergab uns die eskortierende badische Polizei einem SS-Kommando von der etwaigen Stärke einer Kompagnie. Ausgerüstet mit Stahlhelm und aufgepflanztem Bajonett hatten sie den Bahnhof umstellt, da und dort waren Maschinengewehre in Stellung gebracht, damit für den Fall einer „Meuterei” kurze Arbeit verrichtet werden könne. Gleich Schwerverbrechern oder Hochverrätern wurde unser Transport, der wohl an die 1000 oder mehr Gefangene zählte, wie eine Hammelherde unter wüstem Schimpfen, Toben und bedrohlichem Hantieren mit dem Bajonett von diesen kaum 20 Jahre alten SS-Burschen in die wenigen bereitstehenden Güterwagen getrieben, die zum Bersten mit Menschen vollgestopft wurden, so dass man in den vollständig verschlossenen Waggons kaum Atem schöpfen konnte. Zum Glück währte die Fahrt vom Bahnhof in das Lager Dachau nur etwa 15 Minuten. Dort angekommen, mussten die Insassen die Wagen unter dem gleichen Gebrülle und Toben der SS blitzschnell verlassen. Da aber keine Rampe und auch kein Trittbrett vorhanden waren, hatte man nur die Wahl herauszuspringen oder herausgeworfen zu werden. Ich sprang ab, ein anderer fiel auf mich, gleichzeitig spürte ich einen heftigen Schmerz im rechten Knöchel, ich konnte kaum mehr gehen und wurde von zwei Kameraden gestützt.

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Arthur [Hirsch], der mir nicht von der Seite wich und allüberall wie mein eigener Schatten bei mir war, half mir beim Gehen, so gut es ging. Einem den Transport überwachenden SS-Offizier meldete ich meinen Unfall. Der vertierte Unmensch jagte mich, trotz meiner Schmerzen und obgleich ich kaum gehen konnte, mit den gemeinsten Schimpfworten in die Kolonne zurück, die von hier aus ihren Leidensweg antreten musste. Die uns begleitenden badischen Polizeibeamten, im Vergleich zu diesem SS-Gesindel vornehme Kavaliere, waren sichtlich entsetzt über die Rohheit, die sich ihren Blicken darbot. Hätten wir nicht im Landesgefängnis vor unserem Abtransport eine größere Kommisbrotration empfangen, so wäre es uns übel ergangen, denn weder an diesem noch im Verlauf des folgenden Tages wurde irgend welche Verpflegung verabreicht, erst abends konnte wir den ersten Imbiss in Empfang nehmen. Im Lager angekommen, das von elektrisch geladenen Drahtverhauen und Wachtürmen umgeben war, letztere gespickt mit Maschinengewehren, das Ganze von SS-Posten scharf bewacht, mussten wir erst stundenlang herumstehen, bis uns am Abend ein Barackenraum angewiesen wurde, in dem wir nebeneinander und übereinander wie die Heringe zusammengepresst die Nacht verbringen mussten. Erst am folgenden Tag erfolgte die Einteilung der Eingelieferten, die zunächst auf den großen Appellplatz geführt wurden. Hier konnten wir erst übersehen, dass ein ganzes Heer, wie wir später erfuhren, etwa 15.000 Männer aus ganz Süd-Deutschland und Österreich, eingebracht worden waren. Der Zufall wollte es, dass wir neben eine Münchner Abteilung zu stehen kamen, und nach wenigen Minuten hatten wir bei allem Ungemach die Freude, Arthurs Schwiegervater, dessen Bruder Sigmund Marx und Arthurs Schwager Hans Archenhold begrüßen zu können. Es gelang ihnen, sich in unsere Kolonne einzugliedern, wodurch die drei Münchener zusammen mit uns in die gleiche Stube eingewiesen wurden. Zunächst folgte das Abliefern der Kleider, der Barschaft und vor allem, was man auf sich trug.

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An Geld durfte man nur wenig mehr als 10 RM bei sich behalten, über den übersteigenden Betrag erhielt man eine Quittung. Nach der Entkleidung und dem Passieren des Brausebades wurde man geschoren, rasiert und eingekleidet. Die Kleidung bestand in einem blau-weiß gestreiften Drillichanzug, einem Hemd, schadhaften Wollstrümpfen und einem Paar schweren, derben Schnürstiefeln. Trotz vorgeschrittener winterlicher Jahreszeit (November) gab es keine Unterkleider, keine Kopfbedeckung, keine Mäntel, kurzum, nichts zum Schutze gegen Wind und Wetter in diesem [...] rauhen über 500 m hochgelegenen Dachauer Moos. Jeder Gefangene erhielt eine Nummer, die an Hosen und Rock angenäht wurde, damit war die Individualität ausgelöscht, man war nur der „Schutzhaftjude No. X”, und dass man ein solcher war, war noch äußerlich dadurch kenntlich gemacht, dass man auf der linken Brust einen gelb-roten etwa 12 cm großen „Mogen-Dovid” trug. Je ca. 800 Mann wurden zu einem Block vereinigt, der in einer Baracke (Block No. X) untergebracht wurde. Diese Baracken nahmen den größten Teil des Lagergeländes in Anspruch, sie enthielten je 8 Aufenthaltsräume, die normal für 50 Mann vorgesehen, jetzt aber mit der doppelten Zahl Häftlinge belegt wurden. Man schlief angekleidet auf Stroh und erhielt für die Nacht eine Wolldecke. Zwischen je zwei Unterkunftsräumen befanden sich Waschraum und Klosettanlage, die wegen Überfüllung nur notdürftig ausreichten. Blockwart und Stubenälteste waren arische Häftlinge, unter denen sich unser Blockwart durch besondere Rohheit auszeichnete, während der Stubenälteste ein verständiger duldsamer Mensch war. Neben dem notwendigen Stubendienst wurden täglich drei Zählappelle, frühmorgens, mittags und abends abgehalten, an denen jeder Gefangene, auch die Kranken, teilnehmen mussten, und konnte einer nicht gehen, so wurde er von seinen Kameraden getragen. Diese Appelle, die bei Wind und Wetter auf dem großen Appellplatz stattfanden, dehnten sich zuweilen

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auf mehrere Stunden aus, dass dabei alte, schwache und kranke Menschen, unter denen sich zum Teil Leute bis zu 80 Jahren befanden, oft zusammenbrachen und starben, ist nicht verwunderlich. Die Sterblichkeit war demgemäß unverhältnismäßig hoch, der Transportwagen nach der Leichenhalle und dem Krematorium von München hatte täglich seine vollbeladene Fuhren zu vollziehen. Nur unter Aufbietung äußerster Willenskraft und als Mitträger eines Massenschicksals war man imstande, die schimpfliche Behandlung zu ertragen. Die Verpflegung in einer modern eingerichteten Dampfküche war, einer derben Kasernenkost entsprechend, ausreichend, ein Arbeitszwang bestand nicht, dagegen sorgte eine rigoros durchgeführte Lagerordnung dafür, dass die Pausen zwischen den Appellen, auch bei schlechtem Wetter und oft empfindlicher Kälte, mit Exerzieren und Freiübungen ausgefüllt wurden. Ein Betreten der Unterkunftsräume war während dieser Zeit auch den vom Exerzieren dispensierten Kranken nicht gestattet, die SS-Schergen übten auch dem wohlwollendsten Stubenältesten gegenüber eine scharfe Kontrolle aus und fuhren rücksichtslos durch, damit ja einer es wagen sollte, selbst Kranken eine mildere Behandlung angedeihen zu lassen. Dass diese Schergen, denen das Verbrechertum auf die Stirn geprägt war, die, während wir froren und einregneten, im warmen Militärmantel, den geladenen Revolver am Gurt, oft ohne jede Veranlassung zu Misshandlungen schritten, war nicht erstaunlich, und dass sie die am Appellplatz angetretenen Judenkolonnen bei Regenwetter im dünnen Drillichanzug ohne Kopfbedeckung ob stundenlang stehen ließen, war diesen Kreaturen ein besonderer Genuss. Kleider zum Wechseln besaßen wir nicht, und als man sich in der Not alte Zeitungen, die man in der Stube fand, als Schutz gegen die Kälte unter die Kleider gestopft hatte, wurde am Appellplatz durch Lautsprecher verkündet: „Jeder Schutzhaftjude, der mit Papier unter der Kleidung angetroffen wird, wird mit 25 Stockhieben bestraft.”

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So wurden unsere Münchner Verwandten schon nach wenigen Tagen wegen ihrer bevorstehenden Geschäftsübergabe der Obhut der Münchner Polizei überantwortet, und Julius [Hirsch] und ich mit einer größeren Anzahl zumeist älterer Leute 14 Tage nach Einlieferung zur Entlassung aufgerufen. Zu Julius [Hirsch] und meiner großen Enttäuschung wurde ich aber wegen meines kranken, stark geschwollenen Beines mit mehreren Leuten, die Striemen und andere Spuren von Misshandlungen an sich trugen, zurück verwiesen. Die ärztliche Untersuchung war scharf auf derartige Merkmale gerichtet, da man der Außenwelt beileibe keine Zeugen für erlittene Greueltaten stellen wollte. Ich musste noch weitere 8 Tage im Lager verbringen und

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wurde diesmal zu meiner unbeschreiblichen Freude gleichzeitig mit Arthur [Hirsch] entlassen. Keiner der Häftlinge durfte das Lager verlassen, ohne einen Revers unterzeichnet zu haben, dass er keinerlei Schadens- oder irgendwelche sonstigen Ansprüche stelle, zudem wurde uns noch kurz vor Öffnung der Ausgangspforte von einem SS-Offizier eine Warnungsrede gehalten, in der jedem, welcher über Beobachtungen oder Erlebnisse im Lager Nachrichten verbreitet, mit sofortiger Wiedereinlieferung und lebenslänglichem Konzentrationslager gedroht wurde.

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Heimkehr und Auswanderung

Man möge es mir erlassen zu schildern, mit wie viel Liebe Arthur [Hirsch] und ich nach wiedergewonnener Freiheit von unseren Münchner Verwandten betreut wurden und von welchem Glücksgefühl wir erfüllt waren, als wir am nächsten Tage unsere Lieben in Weinheim umarmen durften, die endlich von der bangen Sorge um unser Leben und unsere Gesundheit erlöst waren. Unsere sichere Ahnung, dass die Frauen alle nötigen Schritte für unsere Befreiung und darüber hinaus auch die Vorarbeiten für die alsbaldige Auswanderung energisch betreiben würden, hatte sich als wahr erwiesen. Ihrer Energie und der Unterstützung nahestehender Freunde, unter denen ich in erster Linie Jacob Hecht aus Basel nennen muss, ist es zu danken, dass für sämtliche noch im Lande zurückgebliebene Angehörige der Familie Hirsch eine Zufluchtsstätte im Ausland gesichert werden konnte. Unser Schwiegersohn Bill hatte für uns die Aufenthaltsbewilligung für Portugal erreicht, obgleich ich mich anfangs nur schwer an den Gedanken gewöhnen wollte, in dem nach unserer Denkrichtung so abgelegenen fremden Lande leben zu sollen. Schon während unserer Abwesenheit hatten die Frauen auch die Verträge für den Transport des Umzugs-

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gutes abgeschlossen, so dass dieses im Laufe des Monats Dezember zunächst nach Rotterdam mit dem Endziel Lissabon verfrachtet und damit weiteren Zugriffen der Nazis entzogen werden konnte. Nach einer mehrere Tage in Anspruch nehmenden ärztlichen Behandlung war mein Bein soweit gebessert, dass Julius [Hirsch] und ich den Verkauf unserer Privathäuser abwickeln konnten. Beide Anwesen gingen entsprechend dem mit Freudenberg abgeschlossenen Vertrag mit kleinen Abänderungen in den Besitz der Stadt über. Nachdem inzwischen auch die Liquidation der Firma abgeschlossen war, übertrugen Julius [Hirsch], ich und Arthur [Hirsch] unsere Vermögensverwaltung auf die Deutsche Bank in Mannheim, die nicht nur unsere Interessen aufs Beste wahrnahm, sondern auch bei der Erlangung der nur schwer erreichbaren steuerlichen Unbedenklichkeitsbescheinigungen und der seit Monaten vorenthaltenen Reisepässe wirksam unterstützte. Arthur [Hirsch] und Fritz [Hirsch], welcher aus unbegreiflichen Gründen noch bis Mitte Dezember in Dachau zurückgehalten wurde, wanderten noch vor Jahresschluss in die Schweiz aus, um von da ihre endgültige Einreisebewilligung für U.S.A. abzuwarten. Meine Frau und ich verließen Weinheim am Neujahrstag 1939 in der Absicht, über Holland zu unseren Kindern nach Lissabon auszuwandern, während Julius [Hirsch] für seine schwer erkrankte, nicht reisefähige Frau zunächst erst eine Unterkunft ermöglichen musste, in der sie wenige Monate später nach schwerem Leiden ihr Leben beschloss. Erst Ende Januar konnte auch Julius als letzter mit Stefanie [Hirsch] (in die Schweiz auswandern, um von dort aus seinen wahlweisen Aufenthalt in England oder Frankreich zu bestimmen.
Wie gründlich die Naziherrschaft mit dem Vermögen der Juden auszuräumen verstand, wurden wir bei unserer Auswanderung gewahr. Nach Abzug der 25 % Reichsfluchtsteuer, der zunächst 20 % Judenabgabe (der alsbald weitere 5 % folgten) und der noch laufenden regulären Steuern wurde unser Vermögen zunächst um die Hälfte gekürzt. Der verbleibende Rest wurde Sperrmarkguthaben, das zur Zeit unserer Auswanderung von der Golddiskontbank von Fall

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zu Fall in nicht allzu großen Beträgen nur noch mit 6 % in Devisen umgewechselt wurde, so dass sich praktisch mein Vermögen nur noch auf 3 % des letztausgewiesenen Vermögensstandes belief. Zudem konnte es noch als glücklicher Zufall bezeichnet werden, dass wir unsere Ausreise nicht 14 Tage später vollzogen haben, da uns sonst die Mitnahme von Schmuck und sonstigen Wertsachen verwehrt worden wäre.

Es war eine schwere Abschiedsstunde, als wir unser Heim verlassen mussten, in dem wir als Kinder die schönsten Jahre einer sonnigen Jugend verbringen durften, in das meine Frau und ich als junges Paar unseren Einzug hielten, in dem unsere vier Kinder geboren wurden und in dem die Eltern ihr glückliches, harmonisches Leben zu einer besseren Zeit beschließen durften. War man auch hart geworden gegen Entrechung und Verfemung, so griff es uns doch ans Herz, als wir uns von der uns so teuer gewordenen Stätte für immer trennen mussten. Was in 70 Jahren von drei Generationen in freudiger, unermüdlicher, zielbewusster Arbeit mit Enttäuschungen, aber auch mit viel Freude am Erfolg aufgebaut worden war, konnten wir nicht, wie wir es immer vermeinten, unseren Nachkommen überantworten. Infolge einer neuen Lehre des Rechtsbruches und der Vergewaltigung mussten wir unsere Lebensarbeit anderen hingeben, auseinandergerissen wurde unser nahes Zusammenleben mit Geschwistern, Kindern und Enkeln, zerstreut in alle Winde müssen sich unsere Kinder im fremden Lande und in fernen Erdteilen eine neue Existenz gründen.

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Unser elterlicher Segen begleite sie auf ihrem Wege in ein neues Leben, und wenn dieser auch schwer sein mag, so habe ich doch den Glauben und das feste Vertrauen zu ihnen, dass ihre Fähigkeiten und ihr durch so viel Unbill gestählter Wille ihren Wiederaufbau mit Erfolg krönen möge.

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