Schicksal taubstummer Juden
Weinheims Juden: Herbert Stiefel floh nach Amerika, schneiderte für Prominente und leitete New Yorks Gehörlosenverein
Mit großflächigen Anzeigen in den Weinheimer Nachrichten warben in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Mannheimer Kaufhäuser Wronker und Schmoller um Weinheimer Kunden. Die 1904/05 im Zuge der
Mannheimer Citybildung beim Paradeplatz als dominante Eckgebäude in E 1 und P 1 entstandenen Warenhäuser lockten ihre Kunden mit riesigen Schaufenstern, die einen Blick ins Innere erlaubten und ganz gezielt zur Verkaufswerbung genutzt wurden. Nach umfangreichen Erweiterungen nahmen die Häuser bald fast das ganze Quadrat ein.
Aus Wronker wurde Hansa
Die Nationalsozialisten stoppten diese Erfolgsgeschichte, denn Wronker und Schmoller waren jüdische Warenhäuser. 1934 wurden die Eigentümer enteignet,
das Kaufhaus Wronker wurde "arisiert" und nannte sich nun Kaufhaus Hansa.
Das Mannheimer Haus der einst von Frankfurt aus gesteuerten Kaufhauskette, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, danach wiederaufgebaut, 1952 in den
Hertie-Konzern eingegliedert, 1994 von Karstadt übernommen und 1995 geschlossen. Konzerngründer Hermann Wronker und seine Frau Ida wurden nach Gurs verschleppt und in Auschwitz getötet. 1939 wurde auch Schmoller "arisiert" und
im Krieg von Bomben zerstört. Heute steht in P 1 als Neubau die Galeria Kaufhof.
Erinnerung durch Stolperstein
In Mannheim ist 1889 Johanna Wronker geboren. Sie war von Geburt an taubstumm und besuchte die Frankfurter Taubstummenanstalt. 1942 wurde sie ins Durchgangs- und Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt und starb dort sechs Monate später. Ihr Schicksal erinnert an ein lange verdrängtes Thema, das auch in Weinheim aktuell war, denn unter den rund 45000 Gehörlosen, die im "Dritten
Reich" lebten, war auch ein Weinheimer Jude: Herbert Stiefel, Sohn des am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportierten und dort am 1. März 1941 verstorbenen
Textilkaufmanns Ferdinand Stiefel.An den Vater erinnert vor dem Haus in der Amtsgasse 3, in dem sich sein Fachgeschäft für Herren- und Knabenbekleidung befand, ein Stolperstein. Herbert Stiefel wurde 1909 in Weinheim geboren und erlag 1969 in New York einem langen Krebsleiden. Die Deutsche Gehörlosen Zeitung (DGZ), monatlich erscheinendes Mitteilungsblatt des Deutschen Gehörlosenverbandes und des Deutschen Gehörlosen-Sportverbandes, würdigte Herbert Stiefel nach seinem Tod als "einen der besten Schüler der Heidelberger Gehörlosenschule und als erstklassigen Maßschneider" und schrieb weiter: "Aus dem väterlichen Geschäft in Weinheim kam er in der NS-Zeit ins Gefängnis.
Nach Ausbruch des Krieges gelang es ihm unter großen Schwierigkeiten, über Rotterdam nach New York zu kommen, mit 5 Dollar in der Tasche". Durch sein Können, würdigte die DGZ, "schaffte er sich eine gute Stellung in einem
erstklassigen Herrenmoden-Geschäft in der 5. Avenue, wo er für viele berühmte Schauspieler und auch für Präsident Eisenhower arbeitete. Zuletzt hatte er ein eigenes Geschäft am Broadway, in dem er im Oktober 1968 brutal überfallen und
beraubt wurde".
Schicksalsgemeinschaft
Herbert Stiefel hatte eine deutsche Frau und zwei Söhne. Er war lange Jahre
Vorsitzender des Jüdischen Gehörlosenvereins New York. Auch seine Lebensdaten hat Lothar Scharf in sein 2007 erschienenes Buch übernommen, das sich unter dem Titel "Rechtlos, schutzlos, taub und stumm" mit den Schicksalen gehörloser Juden zwischen 1933 und 1945 beschäftigt. Scharf, selbst schwerhörig, dokumentiert darin die verheerenden Folgen der NS-Judenhetze für gehörlose Juden, die plötzlich in ihrer Schicksalsgemeinschaft nicht mehr geborgen und geschützt waren, auch weil sich die Sprecher des 1927 in Weimar gegründeten Reichsverbands der Gehörlosen Deutschlands (ReGeDe) nach 1933 als Judenhasser
entpuppten und jüdische Gehörlose rücksichtslos aus den Gehörlosenvereinen warfen.
Gefühl von Gleichwertigkeit
Für viele Leser neu dürften Scharfs Erkenntnisse sein, dass es ab 1934 reichsweit einen "Bann G" (Bann Gehörlose) gab und rund 4000 Hörgeschädigte Mitglied der Hitlerjugend waren: "Durch Uniformen und das Marschieren entstand bei den Taubstummen ein Gefühl von Gleichwertigkeit und Anerkennung", hat Scharf herausgefunden. Er berichtet in seinem Buch (Selbstverlag) auch über gehörlose Mitglieder der NSDAP und über Gehörlosen-SA-Stürme, die mit
Flaggensignalen kommandiert wurden. Für den Autor stellt dies alles einen Widerspruch zur NS-Ideologie dar, die alles Schwache und Behinderte brutal ausmerzte. Etwa 15000 Gehörlose wurden zwangssterilisiert.
Heinz Keller, erschienen in den "Weinheimer nachrichten" vom 14.06.2008