Suche

Suchen in:



  Hilfe

 

  •  

Nach dem 22. Oktober 1940 wurde kein Kind vermisst

Die siebenjährige Doris Hirsch war die Zweitjüngste unter den letzten Weinheimer Juden, die an diesem Tag deportiert wurden

Man kann nur ahnen, wie unendlich schwer der Mutter die Entscheidung gefallen ist, ihr Kind von sich zu geben.

Im Dezember 1941 und mitten im zweiten Katastrophenwinter im südfranzösischen Lager Gurs wurde die 31-jährige Weinheimer Jüdin Martha Recha Hirsch vor die Entscheidung gestellt, ihre achtjährige Tochter Doris in die Obhut des französisch-jüdischen Kinderhilfswerks OSE (Oeuvre de Secours aux Enfants) zu geben, das sich damals in einer Grauzone zwischen legalen und illegalen Aktivitäten bemühte, Kinder bei Nacht und Nebel aus den Internierungslagern zu holen und sie in französischen Kinder- und Waisenheimen unterzubringen und damit zu retten.

Martha Hirsch sträubte sich lange gegen den Gedanken, fortan ohne ihr Kind in diesem schrecklichen Lager leben zu müssen, doch am Ende stimmte sie zu, auch wenn ihr die Trennung wahrscheinlich das Herz brach. Martha Recha Hirsch

schenkte ihrer Tochter Doris an diesem leidvollen 12. Dezember 1941 zum zweiten Mal das Leben. Denn Doris Hirsch überlebte, während ihre Mutter Martha und ihre Großmutter Betty Hirsch im August 1942 nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht wurden. Mit den beiden Frauen starben Raphael und Rosa Hirsch, Schwager und Schwester von Betty Hirsch, im Vernichtungslager. Raphael Hirsch hatte acht Monate zuvor seiner Nichte Martha im Lager Gurs geraten:

"Lass sie gehen, du weißt nicht, was mit uns noch geschieht!". Diesem Rat an die Mutter, die sich lange gegen die Trennung gewehrt hatte, verdankte Doris Hirsch letztlich das Überleben, denn "daraufhin packte meine Mutter die wenigen Sachen, die ich besaß, zusammen, meine Puppe jedoch nicht. Die wollte sie behalten". So formulierte ein halbes Jahrhundert später die inzwischen dem Ruhestand nahe Doris Kappeler, geborene Hirsch, ihre Erinnerungen an dieses schmerzhafteste Ereignis in ihrem von vielen Schicksalsschlägen begleiteten Leben.

Die Puppe der siebenjährigen Doris Hirsch spielt im letzten Kapitel der

Geschichte der einstigen jüdischen Gemeinde Weinheim eine nachhaltig bewegende Rolle.

Unter dem Titel "Rahels Kinder" hat die Weinheimer Autorin Ruth Kropp-Mettler 1991, zum zweiten Heimattreffen ehemaliger jüdischer Bürger, ein Gedicht verfasst, das den Schrecken der Verhaftung und die Unmenschlichkeit der Deportation der letzten jüdischen Bürger Weinheims bedrückend spürbar macht:In unserer StadtTeil I Ein Kind wird vermisst

Beschreibung: Mädchen, circa 6 Jahre alt.Blasses Gesicht, glatte schwarze

Haare,Augenfarbe braun.Bekleidet mit einem dunkelblauen Wintermantel, langen Strümpfen, Schnürstiefeln.Das Mädchen trug einen Lederschulranzen auf dem Rücken.Das Mädchen hielt seine Puppe der Marke Schildkröt im Arm mit

gehäkeltem roten Kleidchen.

Zuletzt gesehen in der Müllheimer Talstraße, Richtung Marktplatz.

Teil II

Es wurde kein Kind vermisst (in der Zeitung fehlte jeder Hinweis)Das Mädchen war nicht arisch.Am Dienstagmorgen wollte es zur Schule gehen wie an jedem Tag.Der Befehl zur Deportation der letzten 47 jüdischen Mitbürger kam plötzlich.

Am Dienstag, dem 22. Oktober 1940, um 8 Uhr, wickelten SA-Leute die Aktion ab: Im Rathaushof ohne großes Aufsehen. Ohne Abschied. Das Transportziel hieß Gurs in Südfrankreich. Als an jenem 22. Oktober 1940 frühmorgens zwei Polizisten im Anwesen Müllheimer Talstraße 24 erschienen, um den völlig ahnungslosen jüdischen Bewohnern Betty, Martha, Doris, Raphael, genannt Rudolf, und Rosa Hirsch mitzuteilen, dass sie sich in kürzester Zeit zum Abtransport fertig machen sollten, reagierte die siebenjährige Doris mit Verstörung und Angst.

Vom Schlosshof aus wurde sie als Zweitjüngste unter "mindestens 65" (Christina Modig) Weinheimer Bürgerinnen und Bürgern jüdischen Glaubens - der Jüngste war der dreijährige Ernst Rapp, etwas älter der zehnjährige Kurt Altstädter - auf Lastwagen nach Mannheim zu bereitstehenden Zügen gebracht.

"Es sind ungefähr 15 bis 20 Wagen voll von nun heimatlosen Menschen, die nur das Allernotwendigste haben, und das manchmal nicht. Nun fahren wir. Es geht das

Gerücht: Nach Frankreich, nach Belfort. O Gott, nur nicht nach Polen " notierte die junge Heidelberger Jüdin Miriam Sondheimer an diesem Tag in ihrem Tagebuch ("Erinnertes Leben. Autobiographische Texte zur jüdischen Geschichte

Heidelbergs". 1998).Nach 72 Stunden quälender Fahrt erreichten die Züge am 24./25. Oktober 1940 die Station Oloron Ste.Marie im unbesetzten Frankreich. Von hier aus wurden die völlig erschöpften Menschen in Lastwagen zum

etwa 18 Kilometer entfernten Lager Gurs gebracht. "Vom Regen durchnässt, frierend, von der langen beschwerlichen Bahnfahrt erschöpft, schauten sich die Menschen in den leeren Baracken nach einer Möglichkeit zum Sitzen oder zum

Liegen um. Keinerlei Sitzgelegenheit bot sich ihnen. Am Boden Strohsäcke oder Stroh oder gar nichts! Auf ihrem Gepäck sitzend - soweit sie solches hatten - verbrachten viele, darunter über 70-und 80-jährige Männer und Frauen, diese erste Nacht im Camp, körperlich und seelisch zerrüttet" (Fliedner: "Die Judenverfolgung in Mannheim").

Über die Familie des Metzgers Hermann Hirsch, das Schicksal ihrer Tochter Martha Recha und den schwierigen Lebensweg der kleinen Doris wird in weiteren Beiträgen berichtet.

Heinz Keller, erschienen in den "Weinheimer Nachrichten" vom 25.05.2007

Zurück zur DokumenteübersichtZurück zum Seitenanfang