Er wollte mit seiner Weinheimer Zeit ins Reine kommen
Martin Eckstein sprach 1991 vor Heisenberg-Schülern über seine Familie, von der ihm nur die Namen auf der Auschwitz-Transportliste geblieben sind
Martin Eckstein hatte Glück im Unglück. Der Elfjährige gehörte im Februar 1941 zu den 50 jüdischen Kindern, die das französisch-jüdische Kinderhilfswerk OSE (Oeuvre de Secours aux Enfants) aus dem Durchgangslager Gurs herausholte und damit vor dem Transport in das Vernichtungslager Auschwitz retten konnte. Martins Eltern und seine 19-jährige Schwester Lore, am 22. Oktober 1940 zusammen mit ihm nach Gurs verschleppt, wurden am 10. August 1942 nach Auschwitz transportiert und wahrscheinlich sofort nach der Ankunft ermordet. Ihre Namen auf der Transportliste sind alles, was Martin Eckstein von seiner Familie geblieben ist, denn seine Großmutter Mina Freudenberger starb im Pariser Sammellager Drancy.
Erschütterndes Wiedersehen
Martin Eckstein hat im April 1991 am zweiten Weinheimer Heimattreffen ehemaliger jüdischer Mitbürger teilgenommen und in einer für die damaligen Zehntklässler des Werner-Heisen-berg-Gymnasiums sicher unvergesslichen Geschichtsstunde über seine Jugend berichtet.
„Ich bin mit sehr gemischten Gefühlen hierher gekommen, aber jetzt bin ich froh, dass ich da bin. Denn diese Tage haben mir geholfen, mit meiner Weinheimer Zeit fertig zu werden. Bisher habe ich sie immer verdrängt, jetzt kann ich sie ablegen”, bekannte der Schwerkranke in dieser außergewöhnlichen Schulstunde und schämte sich seiner feuchten Augen nicht. Mehr als die übrigen ehemaligen Weinheimer Juden hatte ihn diese Besuchswoche mitgenommen. Sie hatte ihn aufgewühlt, weil mit dem Wiedersehen des Wohnhauses am Rodensteinerbrunnen, des schmalen Hauses an der unteren Hauptstraße, in dem sein Vater eine Eisenwarenhandlung betrieb, und der Diesterwegschule, in die er zwei Schuljahre lang ging, ehe er sie verlassen musste, alles wieder lebendig wurde.
Noch am Morgen der Begegnung mit den Heisenberg-Schülern hatte der damals 61-jährige pensionierte Küchenchef aus Randolph im US-Bundesstaat New Jersey geschwankt, ob er sich den Schülern offenbaren sollte. Er tat es dann doch auf Drängen seiner amerikanischen Lebensgefährtin Phyllis Feinstein und machte damit den Schulbesuch zum Höhepunkt dieses zweiten Heimattreffens.
Eine ganz normale Familie
Martins Vater Albert Eckstein stammte aus Friedberg und war als 17-Jähriger erstmals nach Weinheim gekommen. Er wohnte bei Moritz Neu, der in der heutigen Fußgängerzone ein Manufakturenwaren-Geschäft betrieb (jetzt Tchibo). 1912 war Albert Eckstein in Tauberbischofsheim gemeldet, danach scheint er nach Eberbach geheiratet zu haben, denn die beiden Kinder von Albert und Felicitas Eckstein, geborene Freudenberger, kamen in Eberbach zur Welt: Lore 1921, Martin 1929. In der Weinheimer Meldekartei taucht die Familie Eckstein 1933 wieder auf mit Wohnsitz in der Luisenstraße. 1938 wohnten die Ecksteins bei ihrem Geschäft am Rodensteinerbrunnen.
Hier erlebte die Familie die Zerstörung der Synagoge, die Attacken auf die jüdischen Geschäfte und die Verhaftung des Vaters. Nach seiner Rückkehr aus dem Konzentrationslager Buchenwald wurden die Fluchtgespräche in der Familie immer häufiger, doch der Eisenwarenhändler hatte kein Geld für eine Auswanderung. Deshalb zog sich die Familie im März 1939 nach Pforzheim zurück. Im jüdischen Gemeindehaus war Albert Eckstein Vorbeter und organisierte einen bescheidenen Unterricht für die aus öffentlichen Schulen ausgeschlossenen Kinder. Doch auch in Pforzheim wurde der 22. Oktober 1940 für die Ecksteins zum Schicksalstag: Albert (49), Felicitas (48), Lore (19) und Martin (11) wurden im Rahmen der so genannten Wagner-Bürckel-Aktion nach Gurs deportiert.
Die Wagner-Bürckel-Aktion
Den nationalsozialistischen Gauleitern Robert Wagner (Gau Baden) und Josef Bürckel (Gau Saarpfalz) waren nach der Eroberung Frankreichs am 2. August 1940 das Elsass und Lothringen als „Chefs der Zivilverwaltung” (CdZ) unterstellt worden. Mit Baden und Elsass bildete Wagner den Gau Oberrhein, mit Lothringen und Saarpfalz Bürckel den Gau Westmark. Im Rahmen der Waffenstillstands-vereinbarungen mit Frankreich war bestimmt worden, dass alle Juden aus den deutschen Besatzungsgebieten ins Landesinnere von Frankreich deportiert werden. Bei einer Besprechung in der Reichskanzlei forderte Hitler am 25. September 1940 die beiden Gauleiter auf, dafür zu sorgen, dass ihre Gebiete „judenfrei” gemacht werden. Wagner und Bürckel beschlossen, in einer konzertierten Aktion die Deportationen auch auf die im Reichsgebiet lebenden Juden auszudehnen.
Am Ende des Laubhüttenfestes
In der Nacht vom 21. auf 22. Oktober 1940, am Abschluss des Laubhüttenfestes Sukkot, des größten Freudenfestes im jüdischen Kalender, wurde die jüdische Bevölkerung Badens, der Pfalz und des Saarlandes aufgefordert, sich innerhalb kurzer Zeit reisefertig zu machen, sie wurde aus ihren Wohnungen getrieben, gesammelt und abtransportiert. Gestattet waren lediglich die Mitnahme von 50 Kilo Gepäck und eine Barschaft von 100 Reichsmark. Sieben Eisenbahnzüge aus Baden und zwei Züge aus der Pfalz fuhren mit den Deportierten ins unbesetzte Frankreich. Die „Reise” dauerte drei Tage und vier Nächte, ehe die Gefangenen schließlich am Fuß der Pyrenäen auf LKW verladen und die meisten ins Internierungslager Gurs verbracht wurden.
Am 23. Oktober meldete Wagner nach Berlin, sein Gau sei als erster des Reichs „judenrein”. Das Straßburger Militärgericht verurteilte ihn dafür 1946 zum Tode. Bürckel hatte sich bereits im September 1944 durch Selbstmord in Neustadt der Verantwortung entzogen.
Mit der Wagner-Bürckel-Aktion wurden 6.538 deutsche Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland nach Gurs verschleppt. Die größten Transporte kamen aus Mannheim (2.335) und Heidelberg (1.380). Mindestens 65 Weinheimer Juden waren im Mannheimer Transport. Die Familie Eckstein wurde von Pforzheim nach Karlsruhe gebracht und mit 750 Schicksalsgenossen nach Gurs deportiert.
Briefe aus dem Lager
Erst seit kurzem verfügt das Weinheimer Stadtarchiv dank der Bemühungen von Sybille Rummert über die Kopien mehrerer Briefe, die Albert, Felicitas und Lore Eckstein 1941 und 1942 aus dem Lager Gurs an ihren Sohn ins Waisenheim in Aspet im Département Haute Garonne schickten. Die im Original im Stadtarchiv Pforzheim verwahrten Briefe sind ein erschütterndes Dokument des Bemühens, dem Jungen Hoffnung auf ein Wiedersehen und eine gemeinsame Zukunft zu machen. Im nächsten Beitrag werden wir aus diesen Briefen zitieren.
Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 25.01.2007