STADTGESCHICHTE: Bei einem Kerwebesuch verliebte sich Sigmund Hirsch in die Stadt
Auf Schusters Rappen nach Weinheim
Für die Stadt Weinheim ist der Besitz der fast 200 Schreibmaschinenseiten umfassenden Unternehmens- und Familiengeschichte Hirsch von besonderer Bedeutung. Max Hirsch (1871-1950), ältester Sohn des Firmengründers Sigmund Hirsch (1845-1908), hat sie 1940 in Estoril im portugiesischen Exil niedergeschrieben, nachdem die Familie Hirsch – Richard Freudenberg hat sie „in ihrer vorbildlichen bescheidenen Haltung über Weinheim hinaus zu den besten Bürgerfamilien unseres Landes” gezählt – durch nationalsozialistische Willkür heimatlos geworden war. Der persönliche Erlebnisbericht eines um seine Heimatstadt hoch verdienten Mannes sollte die ohne persönliche Erinnerungen an Weinheim in den USA, in Argentinien und Australien aufgewachsene Generation der Hirsch-Enkel an die Geschichte der Familie und der Lederwerke erinnern.
Seine Großeltern hat Max Hirsch nicht mehr erlebt, aber er schildert ihre kleinbürgerlich geprägte Welt aus den Erzählungen seines Vaters Sigmund Hirsch. Großvater Abraham Hirsch, Inhaber eines Manufakturwarenladens in Neukalen in der Mecklenburgischen Schweiz, gab seinen sechs Söhnen eine religiös-liberale Lebenseinstellung mit. Fünf von ihnen erlernten einen kaufmännischen Beruf, Sigmund hatte mehr Spaß an einer landwirtschaftlichen, mehr noch an der handwerklichen Beschäftigung. Er wurde, sehr zum Leidwesen der Mutter, Gerberlehrling im nahen Malchin bei Gerbermeister Bergmann. Die Wanderjahre, natürlich „auf Schusters Rappen”, führten Sigmund Hirsch über Thüringen, Sachsen und Böhmen nach Wien, Graz und Venedig, über den Brenner zurück nach München, Nürnberg, Schwäbisch Hall und Heidelberg.
Bei Lederhändler und Zurichter Schwarzbeck sagte dem jungen Sigmund die Arbeit zu und die gemütliche süddeutsche Atmosphäre nahm den Mecklenburger gefangen. Bei Sigmund Oppenheimer, Besitzer eines renommierten Manufakturwarengeschäfts am Heidelberger Marktplatz, fand er Anschluss an jüdische Familien und lernte seine große Liebe Sophie Oppenheimer kennen, zweitjüngste von acht Geschwistern und im elterlichen Feldbau und Landesproduktenhandel im Dorf Hoffenheim aufgewachsen, einem heute vor allem mit einer Zweitligamannschaft bekannt gewordenen Stadtteil von Sinsheim.
1867 kam der 22-jährige Sigmund Hirsch erstmals nach Weinheim. Einer seiner Freunde, Sohn von Bürgermeister Fild, hatte ihn zur Kerwe eingeladen. „Oft erzählte der Vater uns Kindern von jenem denkwürdigen Spaziergang zur Burg Windeck und dem unvergessenen Eindruck, den er beim Anblick des zu seinen Füßen liegenden Städtchens gewonnen hatte”, erinnerte sich Max Hirsch an des Vaters ersten Weinheim-Besuch, der ihn seinem Wunsch nach einem eigenen Geschäft gleich einen großen Schritt näher brachte.
Denn die Gerberei von Albrecht und Fritz Kraft am Diebsloch stand zur Verpachtung mit Vorkaufsrecht an. Als Sigmund Hirsch 1868 die Gerberei pachtete und sie 1869 zusammen mit seinem Schwager Louis Mayer kaufte, legten ihm weder die Zunft, noch die Behörden Hindernisse in den Weg, denn seit 1862 galt im Großherzogtum das Gesetz über die bürgerliche Gleichstellung der Israeliten.
Am 22. Februar 1868, vor 140 Jahren, wurde am Diebsloch mit der Bearbeitung von Rosshäuten begonnen und mit dem eher im pferdereichen norddeutschen Küstengebiet beheimateten Außenseiter-Artikel eine Spezialität begründet, die den zunächst nur mit einem Taglöhner arbeitenden Handwerksbetrieb zum bedeutendsten Rosslederwerk Deutschlands machen sollte. Max Hirsch: „Der Vater war der Pionier der Rossledergerberei in Süddeutschland”.
Am 2. Juli 1868 heirateten Sigmund Hirsch und Sophie Oppenheimer. 1871 wurde Sohn Max geboren, 1874 Sohn Julius und 1876 Tochter Ida.
Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachricht" vom 08.03.2008