„Tag der Machtübernahme” vor 75 Jahren: Erinnerungen an einen schicksalhaften Tag
„Wir ahnten, was kommen würde”
Am Abend des 30. Januar 1933 zogen in Berlin Zehntausende Anhänger der NSDAP mit Fackeln durch das Brandenburger Tor und auch an vielen anderen deutschen Orten feierten die Nationalsozialisten triumphierend den lang ersehnten „Tag der Machtübernahme”. In Weinheim marschierten an diesem für Deutschland so schicksalhaften Montag allerdings nicht die Nationalsozialisten durch die Innenstadt, sondern die Kommunisten. Mit roten Fahnen und Transparenten protestierten sie gegen die Berufung Hitlers zum Reichskanzler. Auf dem Marktplatz versammelten sich über 200 Demonstranten und hörten die Rede des Stadtverordneten Josef Machwirth. Es war die letzte offene Meinungsäußerung der KPD in Weinheim, denn wenige Tage später wies die badische Regierung die Polizeibehörden an, „Demonstrationen staatsfeindlicher Organisationen zu verbieten, falls von diesen bei Umzügen Beschimpfungen gegen die Reichs-und Landesregierung geäußert werden oder die öffentliche Sicherheit gefährdet ist”.
Die „Kundgebung der Weinheimer Nationalsozialisten” fand erst am 31. Januar 1933 statt. Die Mehrheit der Weinheimer Bürger hatte wohl auf diesen Tag gewartet, denn „eine unübersehbare Menschenmenge jubelt Köhler zu”, berichtete Hanns Müller, Kreispropagandaleiter der NSDAP und Stützpunktleiter in Oberflockenbach, am 1. Februar 1933 in den Weinheimer Nachrichten.
Unmissverständliche Warnung
Einen Tag nach der verhängnisvollen Entscheidung des 85-jährigen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, den 44-jährigen Vorsitzenden der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), Adolf Hitler, mit der Bildung einer neuen Reichsregierung zu beauftragen, marschierten Weinheims Nationalsozialisten im Fackelzug und unter Vorantritt der Stadt- und Feuerwehrkapelle vom Petersplatz durch die Hauptstraße zum Marktplatz. Hier sprach Walter Köhler, stellvertretender Gauleiter, Fraktionsvorsitzender der NSDAP im badischen Landtag und Führer der Weinheimer Nationalsozialisten, zu seinen Mitbürgern: „Der Nationalsozialismus ergreift die Macht und warnt seine Feinde! Wage es niemand, diesen, unseren Staat anzufassen; am 9. November 1918 konntet Ihr das Reich Bismarcks zerbrechen; heute werden wir Euch zerbrechen, wenn Ihr auch nur den Versuch machen solltet, Euch dem gestrigen Aufbruch des neuen Deutschland entgegenzustellen”.
Die drohenden Worte Köhlers waren eine Reaktion auf den Demonstrationszug der Weinheimer Kommunisten am Vortag und sie zeigten Wirkung: „Wir ahnten, was kommen würde”, erinnerte sich 50 Jahre später Peter Ewald, damals Leiter der Sozialistischen Arbeiterjugend und dann von 1948 bis 1956 SPD-Stadtrat im Weinheimer Gemeinderat, an diesen 31. Januar 1933 und an die Betroffenheit, mit der Sozialdemokraten und Kommunisten damals durch Seitenstraßen nach Hause gingen.
Walter Köhler (1897-1989), von 1933 bis 1945 NS-Ministerpräsident in Baden, erinnerte sich dagegen noch 1977 mit wenig unterdrücktem Stolz an diesen Tag: „Mit dem 30. Januar 1933 war die Epoche, die man die Kampfzeit nennt, abgeschlossen. Mit der Berufung Hitlers zum Reichskanzler durch Hindenburg begann ein neuer Abschnitt deutscher Geschichte, der mit dem Aufstieg Deutschlands zur bewegenden Kraft in Europa und mit dem dramatischen Ablauf der 12 Jahre keine Parallele in der deutschen Vergangenheit findet”.
Das Kuckucksei im Nest
Auch von Max Hirsch, von 1909 bis 1912 als Nachfolger seines Vaters Sigmund Hirsch Mitglied im Bürgerausschuss von 1912 bis 1919 liberaler Gemeinderat, gibt es eine Erinnerung an den 30. Januar 1933, niedergeschrieben 1940 im Exil in Lissabon: „Dem alten Hindenburg blieb trotz langem und heftigem Widerstand nichts anderes übrig, als diesem Demagogen das Reichskanzleramt zu übertragen. Auch viele der vernünftig denkenden und sich verantwortlich fühlenden Kreise sahen es nicht ungern, dass dem bramarbasierenden ‚Volksbeglücker’ auch einmal die Verantwortung im Staat übertragen wurde. ‚Lasst ihn ruhig an die Regierung kommen, bald wird es mit dem ewigen Gehetze Ruhe geben, er kann auch nur mit Wasser kochen’. Die sich ihm anschließenden Rechtsparteien glaubten, schon kraft ihrer bisherigen Unterstützungen, den Kanzler ihrem Einfluss unterordnen zu können. Nur allzu schnell sollten sie entdecken, dass ein Kuckucksei in ihrem Nest lag”.
Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 30.01.2008