Nachruf: Ellen Wiener-Neu starb kurz vor ihrem 98. Geburtstag
Sehnsucht nach Weinheim in Brasilien
Drei Tage vor ihrem 98. Geburtstag ist Ellen Wiener-Neu in ihrer brasilianischen Wahlheimat Porto Alegre gestorben.
Seit ihrer Flucht aus Deutschland im Januar 1937 lebte die gebürtige Weinheimerin in der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul. Bis ins hohe Alter hat sie Kontakt nach Weinheim gepflegt und ihre Kinder, Enkel und Urenkel immer wieder angehalten, die Stadt in Deutschland zu besuchen, in der sie aufgewachsen ist.
Ellen Sofie Neu wuchs mit ihren Geschwistern Hilda (Jahrgang 1913) und Erwin (Jahrgang 1919) im Elternhaus Schulstraße 8, gegenüber der Pestalozzischule auf. Sie war die Tochter des Weinheimer Lederkaufmanns Samuel "Sally" Neu, der zusammen mit seinem Bruder Max das Leder- und Häutegeschäft des Vaters und das Lager beim ehemaligen städtischen Schlachthof an der Viernheimer Straße betieb.
Sally war Kriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg und betätigte sich nach Kriegsende politisch in der SPD. Von 1919 bis 1922 gehörte Sally Neu dem Bürgerausschuss an, am 1. April 1922 rückte er in die SPD-Gemeinderatsfraktion nach, als drei Gemeinderäte aus der SPD ausgetreten waren.
Im Sommer 1937 mussten Sally Neu und seine Ehefrau Olga, geborene May, in Frankfurt untertauchen. Sie emigrierten noch im gleichen Jahr nach Uruguay. Die Eltern Neu konnten dabei weder der Tochter Hilda nach Südafrika folgen, noch ihrer Tochter Ellen und ihrem Sohn Erwin nach Brasilien. Erst viel später fand die Familie Neu in Porto Alegre wieder zusammen.
Zu Gast beim Treffen
Ellen Neu, die kurz vor der Emigration noch Kurt Wiener geheiratet hatte, nahm 1979 am ersten Heimattreffen ehemaliger jüdischer Bürger in Weinheim teil und besuchte ihre Heimatstadt auch danach mit ihrer Tochter Gladis Blumenthal.
Als 2009 zu einem weiteren Heimattreffen eingeladen wurde, ließ sich die inzwischen 95-Jährige von ihren Töchtern Lia Waldmann und Gladis Blumenthal vertreten. Ein sehr emotionaler Augenblick für die Wiener-Töchter war während der Weinheim-Tage der Besuch des Elternhauses der Mutter an der Schulstraße.
"Wir hatten unsere Mutter sehr oft nach ihrer Jugendzeit gefragt. Und obwohl ich es zuvor nie gesehen hatte, wusste ich bereits eiiges über das Haus", erzählte Lia Waldmann damals den Weinheimer Nachrichten. Sie weilte zum ersten Mal in Weinheim und berichtete immer wieder von der engen Bindung der Mutter an Weinheim. Daher kommen auch die hervorragenden Deutschkenntnisse der Wiener-Töchter: "Unsere Mutter hat immer Deutsch mit uns gesprochen, obwohl sie auch Portugiesisch gelernt hatte. Wenn wir Kinder nicht Deutsch sprachen, wurden wir einfach ignoriert".
Folglich lasen Lia und Gladis im "Struwwelpeter" und sangen mit der Mutter deutsche Volkslieder. Während des Weinheim-Aufenthaltes ihrer Töchter ließ sich Ellen Wiener telefonisch über die Ereignisse in der Heimat informieren, die inzwischen auch Wiener-Enkel besucht haben.
Heinz Keller, veröffentlicht in den Weinheimer Nachrichten vom 16.11.2012