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Reise in die Vergangenheit

Lebenserinnerungen der Frau Hanna Meyer-Moses

...Da nach 1936 die Ferien in Altdorf zu gefährlich geworden waren, sollten meine Eltern für die Sommerferien 1937 und 1938 etwas Anderes finden, damit wir Kinder nicht vier Wochen in der Stadt "herumlungern" mussten. Für 1937 gab es folgende Lösung: Meine Schwester Susanne konnte nach Horn am Bodensee fahren zu Dr. Erich Bloch und seiner Frau Liesel, die dort ein so genanntes "Hachschara-Projekt" betrieb (Umschulung junger Leute in landwirtschaftliche Berufe für ihr künftiges Leben in Palästina). Dr. Bloch war Rechtsanwalt und ein Bekannter meines Vaters. Meine Schwester verlebte dort sehr erholsame Sommerferien, an die sie sich immer wieder gerne erinnerte.

Ich durfte meine Ferien anderswo verbringen - und zwar bekam meine Mutter Kenntnis vom Projekt "Kinder aufs Land". Sie meldete mich an und ich durfte vier sagenhaft erlebnisreiche Ferienwochen in Weinheim an der Bergstraße erleben. Wer mich mit dem Zug dorthin begleitet hat, weiß ich nicht mehr. Ich landete aber bei einer Familie Schloss, die zwei Mädchen in meinem Alter hatte (Anmerkung: Familie Leopold Schloss, Gertrud Schloss, Töchter Lore Schloss und Beate Schloss). Nach der Begrüßung wollte ich gerade meinen Koffer auspacken, als ein Herr Stiefel erschien (Anmerkung: Vermutlich Herr Ferdinand Stiefel, mich aufforderte, alles wieder einzupacken, und mich mitnahm, um mich zu Familie Hamburger Hamburger, Entengasse 4, zu bringen. Herrn Stiefel sah ich in der Folge nie wieder und ich weiß nicht, wo er herkam und in wessen Auftrag er handelte. Familie Hamburger bestand aus Vater Moritz und Mutter Hilda sowie den Kindern Heinz und Edith, beide etwas über 20 Jahre alt. Zeitweise kam auch die Verlobte von Heinz auf Besuch, nämlich Martha Salomon aus Hirschhorn. Hamburgers waren im Altmetallhandel tätig und führten damals noch ein großbürgerliches Leben, an dem ich während meines dortigen Aufenthalts teilnehmen durfte.

Jeden Samstagabend führ die ganze Familie nach Heidelberg ins erste Hotel am Platz (es befand sich gegenüber dem Bahnhof), wo sich Heinz und Edith beim Tanzen vergnügten. Die Eltern und ich saßen an einem Tisch und konnten dem bunten Treiben zusehen. Da ich keine entsprechende "Garderobe" besaß, ließ mir Frau Hamburger von ihrer Hausschneiderin ein Kleid anfertigen: fließender Stoff in hellgrüner Farbe mit ganz kleinen schwarzen Tupfen, im Empireschnitt und am Halsausschnitt und an den Puffärmelrändern mit Plissee versehen!

Wir machten an Sonntagen größere Ausflüge, immer mit Hamburgers Auto, so auch nach Bingen und Rüdesheim am Rhein, wo ich in einem Restaurant zum ersten Mal in meinem Leben Lachsbrötchen und Weißweinschorle bekam. Fahrten auf dem Neckar und ein Ausflug auf die Molkenkur und zum Heidelberger Schloss mit Fass und Fuchsschwanz sind mir ebenfalls in Erinnerung geblieben. Auf diesem Fass hatte, gemäß Erzählung meiner Mutter, bereits mein Großvater David Dreifuss aus Altdorf getanzt, als er während seines Militärdienstet in Karlsruhe als Schlosswache bei den "Hundertneunern" im Urlaub dorthin fahren konnte. Für ihre Geschäftstätigkeit fuhren Hamburgers einmal nach Saarbrücken, wo man mir in einem großen Stahlverarbeitungswerk die Herstellung von Metall zeigte. Das Mittagessen nahmen wir im Hotel Exzelsio ein, dem ersten Lokal am Platz, in dem auch Hitler einkehrte, wie man mir erklärte. Die Kellner, die uns bedienten, trugen weiße Handschuhe und alles war äußerst vornehm.

Ein anderes Mal fuhr Heinz allein geschäftlich mit dem Wagen nach Frankfurt, wohin ich ihn begleiten durfte. Er sagte mir, dass wir bereits auf der Autobahn führen, dem allerersten Stück, das Mannheim mit Darmstadt verband und das noch weiter ausgebaut werden sollte.

Ein einziges Mal entstand eine unangenehme Situation: Wir waren an einem Sonntag zum Ausflug nach Heidelberg gefahren und hatten den Wagen in einer Einbahn-Nebenstraße abgestellt, die von einem Parkwächter betreut wurde. Nach Beendigung des Ausfluges, kehrten wir zurück, nahmen unsere Plätze im Wagen ein, mit Heinz am Steuer, der vom Parkwächter für die Abfahrt herausgewunken wurde. Heinz ließ den Motor an und bewegte langsam den Wagen hinaus, als plötzlich von hinten ein Auto heranfuhr und unseren Wagen rammte. Es gab einen Ruck und wir erschraken sehr - Heinz wollte den Parkwächter zur Rede stellen, aber sein neben ihm sitzender Vater ermahnte ihn, sofort ab- und heimzufahren. Meines Wissens hatte dieser Zwischenfall keine Folgen. Rückblickend hätte er Schwerwiegendes nach sich ziehen können...

Nach vier Wochen kehrte ich glücklich und sehr verwöhnt nach Hause zurück, wo mich meine Mutter wieder an unser Leben ohne Lachsbrötchen und Schorle eingewöhnen musst. Ich hatte von da an keinen Kontakt mehr zu "Weinheim".

Hamburgers konnten im August/September 1938 noch nach Amerika auswandern, so sie von einer sich schon länger dort aufhaltenden Tochter namens Isabelle (lt. unseren Unterlagen hieß diese Tochter Ilse erwartet wurden. Viele Jahre nach dem Krieg, mit auflebenden Erinnerungen, versuchte ich wieder Kontakt zur Familie Hamburger zu erhalten. Nach enormen Suchanstrengungen (in Weinheim/Israel/Amerika) fand ich einen Herrn Braun in Atlanta, der mir weiterhelfen und die Adresse von Martha Hamburger, geb. Salomon vermitteln konnte. Im Jahre 1991 fuhren mein Mann und ich zu Verwandten nach Oklahoma/USA und richteten den Reiseplan so ein, dass wir drei Tage Zwischenhalt in Atlanta verbringen konnten. Herr Braun betreute uns und wir trafen Martha Hamburger zu einem unvergesselichen Wiedersehen, bei welchem sie mir die Fotografien der Familie zum Kopieren mitgab und auch noch Einzelheiten ihrer Abreise aus Deutschland erzählte. Leider war Heinz bereits mehrere Jahre zuvor verstorben und mit ihren Schwägerinnen Edith und Isabelle/Ilse hatte sie keinen engen Kontakt mehr. Eine der Aufnahmen, die sie mir gab, zeigt mich mit der Familie auf einem Ausflug in Strümpfelbrunn.

Das Problem des Ferienaufenthalts stellte sich 1938 erneut. Meine Mutter erfuhr von einem Bekannten, dass das jüdische Landschulheim Herrlingen (bei Ulm) Ferienkinder aufnehme, wenn die Internatsschüler zuhause seien. Sie meldete mich dort an, ich prahlte in meiner Klasse etwas damit herum. Das bewirkte, dass sich noch drei Mitschülerinnen ebenfalls anmeldeten und dann mitkamen. Wir wurden bei der Hinfahrt im Zug über Stuttgart und Ulm von einem Karlsruher Jugendbundleiter begleitet und in Herrlingen abgeliefert. Auch dort verlebten wir noch sehr schöne und ungestörte Ferienwochen, eingeteilt in Altersgruppen. wir machten viele Ausflüge in die Umgebung, auch Nachtfahrten, fuhren nach Ulm zum Münster und zum Baden an die Donau. Den Schabbat feierten wir mit melodischen Gesängen vor und nach der Mahlzeit, die uns der Heimleiter, Hugo Rosenthal, lehrte. Er war zuvor schon als Pädagoge in Palästina tätig gewesen, kam aber nach Herrlingen zurück, ald die frühere Leiterin, Anna Essinger, nach 1933 mit einigen ihrer Schützlingen nach England auswanderte und dort Neu-Herrlingen gründete. Hugo Rosenthal konnte 1939 noch ganz knapp "vor Torschluss" nach Palästina entkommen. Erst nach vielen Jahren bekam ich durch Bücher von seinen modernen und beispielhaften Erziehungsmethoden Kenntnis, teilweise durch Bekanntschaft mit den Verfassern, die mir ihre Forschungen überreichten.

Textausschnitt aus =Reise in die Vergangenheit - Eine Überlebende des Lagers Gurs erinnert sich an die Verfolgung während der NS-Diktatur=, erschienen im Verlag Regionalkultur (ISBN 978-3-89735-560-6).

Textauschnitt veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verlag Regionalkultur, Ubstadt-Weiher.

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