Menschliches Strandgut der nationalsozialistischen Willkür
Vor 60 Jahren wurden 6504 Juden aus Baden und der Pfalz nach Gurs deportiert / Unter ihnen befanden sich wahrscheinlich 65 Weinheimer
Am 24. Oktober 1940 teilte der Chef des Sicherheitsdienstes der SS, Reinhard Heydrich, dem SA-Standartenführer Luther im Auswärtigen Amt mit: "Der Führer ordnete die Abschiebung der Juden aus Baden über das Elsass und der Juden aus der Pfalz über Lothringen an. Nach Durchführung der Aktion kann ich ihnen mitteilen, dass aus Baden am 22. und 23.10.1940 mit 7 Transportzügen und aus der Pfalz am 22.10.1940 mit 2 Transportzügen 6504 Juden im Einvernehmen mit den örtlichen Dienststellen der Wehrmacht, ohne vorherige Kenntnisgabe an die französische Behörden, in den unbesetzten Teil Frankreichs über Chalons-sur-Saone gefahren wurde. Die Abschiebung der Juden ist in allen Orten Badens und der Pfalz reibungslos und ohne Zwischenfälle abgewickelt worden. Der Vorgang der Aktion selbst wurde von der Bevölkerung kaum wahrgenommen. Die Erfassung der jüdischen Vermögenswerte sowie ihre treuhänderische Verwaltung und Verwertung erfolgt durch die zuständigen Regierungspräsidenten. In Mischehen lebende Juden wurden von den Transporten ausgenommen".
Hintergrund der Ausweisung vom 22. Oktober 1940 war eine deutsch-französische Vereinbarung im Rahmen des Waffenstillstandsabkommen vom 22. Juni 1940, nach der alle Juden französischer Staatsangehörigkeit aus Elsass und Lothringen ins unbesetzte Frankreich abgeschoben werden durften.
Ein Willkürakt
Diese Bestimmung wandten Robert Wagner, Gauleiter von Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsass, und Josef Bürckel, Gauleiter von Saarpfalz und Chef der Zivilverwaltung in Lothringen, "sinngemäß" (Gestapo-Bericht), aber vertragswidrig auch auf die Juden ihrer Gaur an. Die Deportation der badischen und pfälzischen Juden ging als "Bürckel-Aktion" in die Geschichte ein, doch scheint heute, trotz des Heydrich-Textes mit dem Verweis auf einen "Führer"-Befehl, so gut wie sicher zu sein, das der badische Gauleiter der Initiator der Deportation und damit der Hölle vom Camp de Gurs gewesen ist (Ludger Syré in "Die Führer der Provinz", Karlsruher Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus. 1997). Der Protest der französischen Regierung in Vichy gegen die völkerrechtswidrige Maßnahme, über die sie nicht informiert worden war, ließ Wagner kalt. Von den 4464 aus Baden stammenden Juden starben 1168 vor der Befreiung Frankreichs, 491 konnten fliehen oder auswandern, 777 überlebten, 2028 wurden 1942 in die Konzentrationslager Auschwitz und Majdanek verschleppt und dort bis auf wenige Ausnahmen ermordet (Paul Sauer: "Die Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs während der Nationalsozialistischen Verfolgungszeit 1933-1945", Stuttgart 1969).
Noch am Abend des 22. Oktober 1940 meldete Wagner voller Stolz dem "Führer" nach Berlin: der Gau Baden sei "judenrein".
Eine streng geheime Aktion
Bereits am 15. Oktober 1940 erreichte ein streng geheimer Erlass des badischen Innenministeriums die Landratsämter. Umgesetzt wurde er am jüdischen Feiertag Laubhüttenfest und weisungsgemäß war in den Tageszeitungen kein Wort darüber zu lesen. Am frühen Morgen des 22. Oktober 1940 wurden die in Baden, der Pfalz und im Saarland noch lebenden Juden festgenommen und zu Fuß, mit Lastwagen, Militärfahrzeugen oder sonstwie in die bereitstehenden Züge verfrachtet (Johannes Obst: "Gurs - Deportation und Schicksal der badisch-pfälzischen Juden 1940-1945"). Ausgenommen waren nur akut Kranke, ein Teil des Pflegepersonals, nahe Angehörige Schwerkranker und die jüdischen Partner in Mischehen. Alter und Gebrechen waren keine Hinderungsgründe, nicht Gehfähige wurden auf Tragbahren zu den Zügen gebracht. Gestapo und Gendarmerie nahmen alle mit: vom Säugling bis zum Greis. Besonders hoch war der Anteil der sehr alten Juden: M. Steiner aus Mannheim war über 98 Jahre alt. Die älteste unter den wahrscheinlich 65 Weinheimer Juden, die zum Schlosshof gebracht wurde und sich vergeblich nach Hilfe und Beistand umschaute, war die 83-jährige Emma Lehmann, die Jüngsten waren Ernst Rapp(4); Doris Hirsch(7), Kurt Altstädter (10).
Niemand bemerkte etwas
Die badischen und damit auch die Weinheimer Juden wurden von der Abschiebeaktion völlig überrascht. Sie wurden von ihrer Ausweisung erst unmittelbar vor der Festnahme und dem Abtransport unterrichtet. Die Ausgewiesenen hatten häufig kaum die Möglichkeit, die notwendigsten Habseligkeiten - 50 kg Gepäck und 100 RM Bargeld pro erwachsene Person, 30 kg Gepäck pro Kind waren erlaubt - zusammenzusuchen. Schmuck, Sparbücher und Wertpapiere wurden beschlagnahmt (Christina Modig: "Die jüdischen Bürger Weinheims" in "Die Stadt Weinheim zwischen 1933 und 1945").
Der Anfang vom Ende
Vier Tage und drei Nächte dauerte die Fahrt nach Gurs, einem Dorf in der Südwestecke Frankreichs im Departement Pyrénées-Atlantiques. In den Wintermonaten 1940/41 starben durchschnittlich 20 Menschen pro Tag, bis März 1941 erlagen 1050 Menschen den unbeschreiblichen Lagerverhältnissen. Im Frühjahr 1942 begann das letzte Kapitel: Die Deportation der Juden aus Frankreich "in den Osten". Die in Gurs, Rivesaltes, Noé, Récébédou und Les Milles noch Lebenden gerieten in den tödlichen Sog der inzwischen von Heydrich und Eichmann perfektionierten "Endlösung". Drancy bei Paris, wo die Gestapo ein Sammel- und Durchgangslager eingerichtet hatte, wurde für viele der am 22. Oktober 1940 aus Baden Ausgewiesenen zur letzten Station auf dem Weg in die Gaskammern von Auschwitz und Majdanek. Unter ihnen waren mindestens 17 Weinheimer - auch sie menschliches Strandgut nationalsozialistischer Willkür.
Heinz Keller, 21.10.2000 veröffentlicht in den Weinheimer Nachrichten.