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Sitzung des Bürgerausschusses

Interpellation Dr. Pfälzer gegen Antisemitische Hetze

BAM (=Bürgerausschussmitglied) Dr. Moritz Pfälzer:

Ich habe an den Gemeinderat folgende Eingabe gerichtet:

"Ich bitte den verehrlichen Gemeinderat in der nächsten Sitzung des Bürgerausschusses folgende Angelegenheit zur Besprechung und Beantwortung zu bringen. Seit einiger Zeit werden häufig nachts Flugblätter angeschlagen oder verteilt, die sich geen die Juden richten. Ton und Inhalt sind derart, daß sie leicht zu Ausschreitungen führen können. Glaubt der Gemeinderat oder das Bürgermeisteramt gegen dieses gemeingefährliche Treiben etwas tun zu können?"

Herr Dr. Moritz Pfälzer begründet diese Eingabe wie folgt: Es sei bekannt, daß in Deutschland seit langer Zeit eine starke Hetze gegen die Juden angesetzt hat. Auch die anderen Parteien halten Wahlversammlungen ab und verbreiten ihre Flugblätter, aber kein Parteikampf werde mit solchen Mitteln fortgesetzt wie der antisemitische. Keine Partei sei in der Lage, ihre Flugblätter fortgesetzt zu verbreiten. Es werden von den Antisemiten eine systematische Hetzte mit ungeheueren Mitteln entfaltet.

Weinheim werde ganz besonders bevorzugt. Alle paar Tage, bei Nacht und Nebel

werden die Flugblätter angeschlagen, in denen den Juden alles Mögliche

nachgesagt wird. Diese seien nicht nur schuld am Krieg, sondern auch am Frieden und drängten sich überall vor, auch bei der Revolution. Keine spartakistische Erhebung, wo nicht die Juden verdächtigt werden. Hinter den Bolschewiken in Russland, hinter den englischen und französischen Staatsmännern, die Deutschland vernichten wollten, überall sollen Juden an erster Stelle stehen. Mit hohlen Schlagworten wird eine ungeheure Hetze verbreitet, die vergiftend wirkt und eine Gefahr für die gesamte Öffentlichkeit bedeutet.

Redner verliest einige Stellen aus derartigen Flugblättern, die wohl das gemeinste und erlogenste darstellt, was jemals zur niederträchtigen Verleumdungen gelistet worden ist. Hier in Weinheim - so fährt Herr Dr. Pfälzer Moritz Pfälzer fort - habe man seit Jahrhunderten eine jüdische Gemeinde, der nahezu 200 Seelen angehören. Er fragte nun, ob es richtig sei, daß die Juden hier in der Gesamtheit schlechter seien, wie die anderen Einwohner. Er fragte weiter, ob man je bemerkt habe, daß die Juden sich als Schädlinge gefährlich machten, sodaß sie gegenüber anderen Volksklassen unvorteilhaft abgestochen hätten. Im August 1914 sei die feierliche Ansage gegeben worden, daß nicht mehr nach der Geburt gefragt werden soll, sondern bloß noch nach der persönlichen Eignung eines Menschen. In der allerernstesten Stunde wurde das Versprechen gegeben, daß jeder Deutsche gleichberechtigt im Staate sein soll. Er behaupte nicht, daß die Juden sich besser eignen, als andere. Wenn manche von ihnen auf die radikale Seite traten, so liege die Schuld an den Zeiten und an der Verbitterung, die sie hinterließen. Aber für jene Radikale dürfe man das Judentum nicht verantwortlich machen, sondern solle sich auf die eigene Brust schlagen und einräumen: "Pater peccavi". Er erinnere an Dr. Ludwig Frank. Er glaube nicht, daß Deutschland einen fähigeren Kopf besaß und daß es in Deutschland ein edleres Herz gab. Er hatte sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet. Er war etwas über 40 Jahre alt, als er mit Begeisterung hinauszog. Als gewöhnlicher Mann musste er einrücken, weil er als Jude nicht einmal die Knöpfe bekommen konnte. So stand es um die Gleichberechtigung. Alle Minister, die den Eid auf die Verfassung ablegten, haben ihr Wort gebrochen, indem die Gleichberechtigung in Wahrheit nur ein leerer Buchstabe blieb. Die heutige Beschwerde sei keineswegs eine Privatangelegenheit der Juden. Wenn in der heutigen aufgeregten Zeit des Kohlen- und Kartoffelmangels und der sonstigen Entbehrung das Volk auf die Straße gehetzt werde, so sollte man nicht wähnen, wie es die Verbreiter der Hetzflugblätter tun, daß dann nur die jüdischen Geschäftsläden geplündert werden. Nein, dann werde die Plünderung eine allgemeine sein und die antisemitische Hetze werde zum Verderben für alle ausschlagen. Wer sein Vaterland, seine Heimat liebt, muß dahin streben, eine solche Katastrophe vermieden zu sehen. Deshalb müssen jene gehässigen Angriffe unterdrückt werden, nicht den Juden zuliebe sondern im einträchtlichen Zusammenwirken zum Wohle für das Vaterland, das wir alle lieben.

BAM Bickel:

Auch wir werden angefehdet und haben Feindschaft auszuhalten, die wir gar nicht verdienen. Dort geht es gegen eine bestimmte Rasse, hier gegen eine bestimmte Richtung. Nach unserer Meinung sollen Sie Ihrerseits den Kampf der Unterschiede auf eine gemütlichere Grundlage zu führen bestrebt sein. Dazu müssen Sie alle beitragen. Unser Parteivorstand hat sich kaum zu Wort gemeldet, so geht schon alles gegen ihn los, und er ist doch ein so gemütlicher Mensch. Was die Flugblätter anbetrifft, so wäre zu wünschen, daß irgendwer aus dem Publikum, der einen solchen Zettelkleber ertappt, in an der Krawatte packt und zur Wache bringt, damit festgestellt werden kann, wo er her ist. Unsere Partei steht der Sache fern. (Zuruf von links)Sie glauben, daß die Deutschnationale Partei dahinter steht (Zuruf Schäfer: Der Beweis kommt!) Es freut mich, den Beweis, daß von unserer Partei irgend etwas geschieht, das Antisemitismus heißt, sollen Sie erst noch bringen. (Zuruf von links: Warum sind denn etliche von Ihren Fraktionsgenossen fortgegangen?) Augenscheinlich wegen der vorgerückten Stunde. Aber einige von uns bleiben hier und stehen Rede. Wir verteidigen uns mit vollem Recht. Ich muß aber sagen: Es ist bedauerlich, daß eine gewisse gespannte Stimmung in die Bevölkerung hinein getragen wurde, und daran ist die jüdische Gemeinde selber schuld. Es hat hier seiner Zeit eine deutsch-nationale Versammlung stattgefunden, in der Dr. Ruge sprach. Man wußte nicht, daß jener Herr als Antisemit verschrien ist. Da wurden von der jüdischen Gemeinde eigens Diskussionsredner herbeordert und es kam zu Kämpfen, die besser unterblieben wären. Es hätte alles nicht so aufgebauscht werden sollen. (Zuruf von Samuel/Sally Neu: Lassen Sie doch Herrn Dr. Ruge wiederkommen!) Er wird vielleicht wiederkommen. Ich möchte an die Israeltigen und an alle Parteien die Mahnung richten, jeder soll dazu beitragen Frieden zu halten.

BAM Prof. Keller: Bedauerliche Vorfälle veranlassen die hiesigen jüdische Gemeinde durch ihren Sprecher beim Gemeinderat vorstellig zu werden und um Schutz ihrer Mitglieder gegen fortwährende Beschimpfungen nachzusuchen und um Schlimmeres zu verhüten. Ein außergewöhnlicher Vorgang, der eben beweist, in welch außergewöhnlichen Zeit wir leben. Da die Allgemeinheit mehr oder minder, früher oder später berührt wird, halten wir auch eine Aussprache in diesem Saale für notewendig. Folgende Tatsachen liegen zugrunde: Lichtscheue Elemente, deren Namen man nicht leicht feststellen kann, kleben allenthalben in der Stadt nachts Flugblätter an, in denen die hiesige Bevölkerung gegen die Juden aufgehetzt wird. Unter anderen Umständen könnte man den Kampf dagegen ruhig der Judenschaft überlassen, oder aber die Hetze würde wirkungslos verhallen. Aber die Gefahr dieser Flugblätter ist heute deshalb so groß, weil die Hetzereien in einer an sich schon leidenschaftlich über die Maßen aufgeregte Bevölkerung zu leicht auf fruchtbaren fallen. Letzten Endes wollen und erreichen die unverantwortlichen Flugblattverteiler und die welche hinter ihnen stehen , nichts anderes als blutige Judenverfolgung. Aber nicht minder geheim, würdelos -aber ebenso oder noch mehr wirkungsvoll und gefährlich ist die Judenhetze, die von Mund zu Mund, von Haus zu Haus geht. Gerade manche sogenannten "besseren Kreise", denen man eine leidenschaftslose, sachliche Beurteilung der Frage zumuten kann, versagen, sehen die Judenhetze gern. Nach dem Gesetz der Schwere sinken diese Ideen bis in die unteren zerstörungslustigen Schichten der Bevölkerung, und es entsteht eine gespannte Atmospäre, in der es nur wenig bis zur Entladung bedarf. Die Einwürfe, die von jenen, die von ihrer Leidenschaft nicht lassen können, gemacht worden, sind bekannt und können hier nicht Gegenstand der Debatte werden. Nur eins: "Der Jude soll totgeschlagen werde, weil er an unserem nationalen Unglück schuld ist". Wenn dieser Streit ausgetragen werden würde, dann hätten wir den Krieg aller gegen alle. Den wollen wir vermeiden, und wenn wir schon mitten drin sind, aus ihm heraus. Unsere armen, durch schärfste religiöse, gesellschaftliche, politische Gegensätze zersissenes Volk soll noch einen Querschnitt nach Rasse erhalten, unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit. Und wenn Sie eine Erklärung für unliebsame Äußerungen des jüdischen Wesens haben wollen, so fragen Sie das Unrecht der Vergangenheit bis in die jüngste Zeit hinein. Und wo bleibt das Christentum? Wahre Kultur? "Lösung der Schuldfrage", Vermehrung, Vertiefung der vorhandenen Klüfte in unserem Volke, das ist doch heute wahrhaftig nicht unsere Aufgabe, sondern Zusammenfassung aller Kräfte zu gemeinsamer Arbeit. Deshalb rufen wir den vernünftigen Sinn und Teil unserer Bevölkerung auf, nicht zuletzt als Achtung vor sich selbst, von diesem unsinnigen Treiben sich abzuwenden, gegen diese Zersetzung unseres Volksgeistet anzukämpfen. Von der Schaffung einer anderen geistigen Atmosphäre erwarten wir, vor allem Dauerhaftigkeit für die Zukunft, mehr als von einzelnen kleinen Maßnahmen und wir meinen, daß gerade die heutige Aussprache Grundlage einer solchen Sinnesänderung werden könnte und sollte. Wenn aber der Gemeinderat es für nötig erachtet und Wege weist, die den Forderungen des Augenblicks gerecht werden, so sind wir bereit, ihm mit Rat und Tat beizustehen.

BAM Schäfer: Herr Leinenkugel zieht immer zuerst mit der Reichspolitik auf; deshalb trägt er die Schuld, wenn ihm entsprechend geantwortet wird. Nun zum Beweis für den Antisemitismus der Deutschnationalen. Als Bürgerausschussmitglied Neu Samuel/Sally Neu gesprochen hatte, ist der Zuruf "meschugge" von Leinenkugel gefallen. Wenn Herr Bickel sich an Neu Samuel/Sally Neu wandte mit der apostrophierten Form "Herr Sally Neu" so mutet das merkwürdig genug an. Solche Dinge sollte man doch endlich unterlassen. Es gehört nicht in die heutige Zeit.

BAM Brecht: schließt sich den Worten von Prof. Keller an. Die Hetzblätter gehen von niemand anders aus, als von der Reaktion, die sich ja überall ihre Werkzeuge suche. Die Arbeiterschaft weist das ab. Redner kommt auf die Einwohnerwehr zu sprechen und frägt sich, von wem der Gedanke hier ausginge. (Zuruf Leinenkugel:"Vom Minister Remmele. In großen Städten wollte er sie, aber in kleinen Orten wie hier, wo keine Gefahr besteht, ist sie nicht am Platze).

Bürgermeister-Stellvertreter Fichtner: Er habe die Schutzleute schon mehrfach aufgefordert, auf die Zettelkleber zu fahnden. Aber bisher konnten sie niemanden ertappen.

BAM Eller spricht sich gleichfalls gegen die Einwohnerwehr aus. Wenn hier eine solche gebildet wird, so würde sofort eine revolutionäre Arbeiterwehr als Gegengewicht in Leben gerufen werden. Denn die Einwohnerwehr sei ja doch weiter nichts als ein Werkzeug der Reaktion. Wenn hier im Kollegium darüber Beschwerde erhoben wurde, daß Herr Leinenkugel nahe getreten wurde, so habe dieser immer den ersten Stein geworfen. Wenn Herr Bickel meint, da´ihm über Ruges Antisemitismus nichts bekannt gewesen war, so mag das vielleicht stimmen. Aber wem wollte man den einreden, daß die Deutschnationale Parteileitung über den verruchten Semitenfresser nicht ganz genau unterrichtet war, als sie ihn nach Weinheim berief?

BAM Leinenkugel erwidert dem Vorredner, daß dieser zuerst Streit anfing, als er gleich in der ersten Sitzung die Entfernung der Fürstenbilder aus dem Saale verlangte (Zuruf Eller:"Dazu war ich berechtigt"). Hinsichtlich der Flugblätter bemerkte der Redner, daß seine Partei dieser Propaganda fernsteht. Aber den Bürgerausschuß ur politischen Arena zu machen, hält er nicht für angebracht. Wenn man nach den Ursachen für den Niedergang forscht, so meint er, daß das ganze deutsche Volk daran schuld war. Der Untergang war eine Folge der moralischen Schwäche. Keiner sollte auf die anderen einen Stein werfen, denn wir dragen alle Schuld (Zuruf:von oben herunter). Ja von oben bis unten hat es an moralischem Halt gefehlt. Die Selbstzerfleischung sollte man doch unterlassen. Hinsichtlich der Einwohnerwehr erachte man diese lediglich zum Sicherheitsschutze der Heimatstadt für notwendig, ohne dabei die geringste Nebenabsicht zu verfolgen.

BAM Eller unterbreitet namens der USP eine Interpellation hinsichtlich der Kartoffelversorgung Weinheims, die äußerst mangelhaft ist...

Erschienen im "Weinheimer Anzeiger" vom 19.11.1919

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