Ledwerke Hirsch: Ein Stück Stadt- und Industriegeschichte
Die schwere Trennung vom Lebenswerk
1938 wird die Lage für die jüdischen Betriebe hoffnungslos / Carl Freudenberg kauft die Lederwerke Hirsch
Die Vertreibung aus öffentlichen Ehrenämtern war nur der Anfang der Diskriminierungen, die die deutschen Juden nach 1933 erleiden mußten. Der nächste Schritt zu ihrer Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft waren die berüchtigten "Nürnberger Gesetze". Sie nahmen den Juden die Bürgerrechte und schlossen sie aus der Volksgemeinschaft aus. "Entsetzten über diesen Schlag ins Gesicht war unser unmittelbares Gefühl, in diesem schandbaren Land nicht mehr leben zu können. Sicher wäre das auch die einzig richtige Folgerung gewesen, doch eine unwiderstehliche Macht hielt uns noch von diesem äußersten Schritt zurück. Mir allen Fasern des Herzens an der Heimat hängend, siegte nochmals eine trotzige Beharrungsenergie über alle anderen Erwägungen, im Glauben, daß schließlich doch noch die Vernunft über den Wahnwitz siegen müsse", schreibt Max Hirsch 1940 in seinen Erinnerungen und stellt daneben das Bekenntnis: "Es war eine gefähliche Selbsttäuschung, daß man in seiner durch Herkommen und Erziehung begründeten soliden bürgerlichen Einstellung zu wirtschaftlich und zu wenig politisch dachte und fühlte. Immer noch war man in der Auffassung befangen, daß auch die Regierung im Erwerbsleben und vor allem in der Gütererzeugung jeder fähige Kopf für Deutschlands Wohlfahrt und Fortentwicklung wichtig und unentbehrlich sein müsse".
Nur einer der Junioren zieht die Konsequenzen: Nach einer achttägigen Haftstrafe, die von einer Denunziation ausging, emigrierte Kurt Hirsch nach Brüssel und betreut als Generalvertreter von Hirsch die bedeutenden Absatzgebiete Holland, Belgien, Skandinavien und Südafrika.
Der Irrwahn wird zur Methode
Die innen-, währungs- und zollpolitische Entwicklung macht es den "nichtarischen" Betrieben immer schwerer. Vor allem Firmen mit ausländischen Niederlassungen wurden von den Kapitalflucht witternden Steuerbehörden mit besonderem Argwohn behandelt. Damit verbieten sich Hirschs Selbstvorwürfe, der hollandischen Tochter Cerva das gesamte Kapital entzogen zu haben, ebenso wie die Überlegungen, im Elsaß, in Belgien oder in Italien Beteiligungen einzugehen. Die Chance, in Turin eine mittelgroße Roßlederfabrik zu betreiben, lehnen Arthur und Dr. Fritz Hirsch ab. Max Hirsch bekennt in seinen Erinnerungen, dass er über diese Ablehnung sehr enttäuscht war, seinem Sohn und dem Neffen, aber nachträglich zustimmen mußte, als sein Schwiegersohn Fritz May und die eben erst nach Turin umgezogene Familie von Mussolinis Judengesetzten nach deutschen Muster wieder aus dem Land vertrieben wird.
Der Betriebsobmann
"So lauerte überall der Feind, außen und innen" beginnt Max Hirsch in einem gesonderten Kapitel seine Abrechnung mit dem nationalsozialistischen Betriebsobmann: "Um sein Ziel, die Absetzung der jüdischen Firmeninhaber als Betriebsführer zu erreichen, war ihm jedes Mittel, auch der Verleumdung, gerade gut genug. Es war aber auch nicht schwierig, einen Juden des gröbsten Vergehens, der staatsfeindlichen Gesinnung, zu verdächtigen". Hirsch schildert in diesem Zusammenhang den Fall eines jungen Arbeiters. Seine ebenso unbedeutende wie unbedachte Äußerung sei der NSDAP als bolschewistische Propaganda gemeldet worden. Arthur Hirsch habe dem jungen Mann einen Verweis erteilt, doch der Betriebsobmann habe, seine Entlassung verlangt und sie mit Unterstützung der Gestapo durchzusetzen versucht - diesmal noch ohne Efolg. Als der Betriebsobmann wenig später am Schwarzen Brett ein antisemitischen Plakat anbringt und sich dem Verlangen der Unternehmensleitung widersetzt, es zu entfernen, wird ihm seine bisherige Tätigkeit entzogen und eine andere Arbeit zugewiesen. Die Beschwerde bei der Partei nützte nichts, da der Obmann keine finanziellen Einbussen dadurch erleidet. "Die Tatsache jedoch, dass man einen Menschen mit einer derart niedrigen Gesinnung nicht entlassen konnte, beweist, wie schwierig unsere Stellung im eigenen Betrieb geworden war. Verachtet von seinen Arbeitgebern und den meisten seiner Mitarbeiter, von diesen aber auch als Verräter und Denunziant gefürchtet, konnte er weiterhin unbehelligt sein Amt als Betriebsobmann ausüben", beschließt Max Hirsch dieses Kapitel.
Kürzung jüdischer Kontingente
Den "Axthieb" nennt Max Hirsch die zum Jahresende 1937 vom neuen Reichswirtschaftsminister Walter Funk erlassenen und eindeutig gegen die "nichtarischen" Betriebe gerichteten wirtschaftlichen Ausnahmeverordnungen. Sie kürzen die jüdischen Kontingente zunächst um 10 Prozent, "doch wer hindert jetzt noch das Reichswirtschaftsministerium, die Kontingente weiter zu kürzen und damit den jüdischen Betrieben langsamer oder schneller, ganz nach seinem Belieben, den Todesstoß zu versetzen?", fragt Hisch. Wohlmeinende Freunde empfehlen den raschen Verkauf des Unternehmens, seit 06. Dezember 1937 aus steuerlichen Gründen eine Kommanditgesellschaft, und sie wissen auch, wer die Lederwerke Hirsch kaufen sollte: Der Nachbar Carl Freudenberg. Resigniert kommentiert Max Hirsch in seinen Erinnerungen diese Entwicklung: "Unser Weg war nur allzu einseitig vorgezeichnet un des blieb uns nichts anderes übrig, als vor einer weiteren Kontingentkürzung die Verhandlungen mit unserer Nachbarfirma aufzunehmen. Ich brauch wohl nicht hervorzuheben, wie schwer und schmerzlich uns der erste Schritt zum Verkauf unseres Werkes angekommen ist".
Verkauf an Freudenberg
Die Verkaufsverhandlungen werden mit Richard Freudenberg geführt. Er bekundet die Bereitschaft aller Mitglieder der Unternehmensleidung, die Lederwerke Hirsch zu zuvorkommenden Bedingungen zu übernehmen. Dem Hirsch-Wunsch, die Weinheimer Fabrik gegen einen Freudenbergschen Auslandsbetrieb zu tauschen, kann jedoch aus personellen und devisenrechtlichen Bedingungen nicht stattgegeben werden. So kommt es nach wenigen persönlichen Verhandlungen, zu denen nur einmal der beiden Parteien genehme Schiedsrichter Dr. Betz, Generaldirektor der Badischen Bank, hinzugezogen wurde, zu einer grundsätzlichen Einigung. Doch der NSDAP bereitet -so sieht es Max Hirsch rückblickend- der Gedanke, dass das schon übermächtige Unternehmen Freudenberg durch die Einverleibung der Lederwerke Hirsch eine zu dominierende Stellung gewänne, großes Unbehagen. Das weiß und nutzt der Betriebsobmann, doch "..Freudenbergs mächtiger Einfluß vermochte binnen kurzem diese Quertreibereien abzuwehren". Der badische Wirtschaftsminister Walter Köhler genehmigt den Verkauf von Hirsch an Freudenberg.
Nach dem von Max Hirsch beschriebenen Kaufvertrag verpflichtet sich Freudenberg "...sämtliche den beiden Firmen Sigmund Hirsch OHG und Lederwerke Hirsch KG gehörenden Liegenschaftswerte bestehend aus den beiden Fabriken, den Werkswohnungen, den beiden von Arthur und Dr. Fritz Hirsch bisher bewohnten Villen, sowie der ausgedehnte Grundbesitz sind zum steuerlichen Einheitswert zu übernehmen, die Maschinen und Einrichtungen zum Anschaffungswert, abzüglich normalen Abschreibungen, die Rohhäute und Lederbestände zum Tagespreis nebst Zuschlägen, für die entsprechenden dem Arbeitsstadium, in dem sie sich befanden, ein Bewertungsschlüssel vereinbart wurde. Die Betriebsmaterialien sind zum Anschaffungspreis zu bewerten, die Außenstände von uns selbst einzuziehen. Passiven waren keine vorhanden". Für die Privathäuser von Max und Julius Hirsch und ihren Grundbesitz wurden Sonderabkommen getroffen. "Beider Besitz geht in das Eigentum der Firma Freudenberg oder unter ihrer Garantie auf einen anderen zum Wert von 120 000 RM über, sobald Max und Julius Hirsch entschlossen sein sollten, von Weinheim wegzuziehen". Das Sonderabkommen sollte bis Ende 1946 Gültigkeit haben.
...mit Ausnahme der Juden
Freundenberg übernimmt mit dem Kauf von Hirsch alle Verträge, sozialen Verpflichtungen und Schutzrechte, damit auch alle Angestellten und Arbeiter mit Ausnahme der jüdischen Arbeitnehmer. Sie werden von Hirsch weitgehend entschädigt. Der bisherige Betriebsobmann, der den Verkauf an Freudenberg verhindern wollte, um bei einem anderen Käufer Betriebsführer zu werden, verliert seinen Posten und erhält bei Freudenberg eine untergeordnete Bürotätigkeit, während Herbert Odenwälder die technische Leitung des Roßledwerkers übernimmt und Fritz Vock weiterhin das Lederlager leitet. Während der Übergangszeit von Juli bis Oktober 1938 stehen Arthur Hirsch, Dr. Levy und Heynemann noch zur Verfügung.
Der Leiter des Hirsch-Labors Dr. Levy bis 1933 Assistent bei Professor Freudenberg in Heidelberg, fiel in den letzten Tagen der Lederwerke Hirsch noch einer Intrige zum Opfer. Als er auf Geheiß von Arthur Hirsch die von Freudenberg angeforderten Rezepte und Verfahren niederschrieb, bezichtigte ihn die Gestapo des Verrats und der Verschleppung von Betriebsgeheimnissen. Dr. Levy und Arthur Hirsch wurden in Haft genommen, auf energisches Einschreiten der Firma Freudenberg aber wieder entlassen.
Heinz Keller, erschienen am 22.01.1992 in den Weinheimer Nachrichten.