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Die Häftlingsnummer löschte die Individualität aus

Max Hirsch und Hugo Rothschild haben ihre Erinnerungen an den 10. November 1938 und die anschließende Lagerhaft in Dachau niedergeschrieben

Zeugen der Sprengung der Weinheimer Synagoge am 10. November 1938 sind heute Senioren. Sie waren Kinder und Jugendliche, als vor 68 Jahren SA-Männer mit Beilen und Äxten die Inneneinrichtung zerstörten und den Davidstern von der Kuppel holten, ehe das jüdische Gotteshaus gesprengt wurde. Nahezu allen Zeitzeugen ist die Zerstörung der Synagoge vor allem akustisch in Erinnerung: während des Unterrichts hörten sie in den umliegenden innerstädtischen Schulen den Knall der Detonation. Manche rannten schon in der nächsten Pause neugierig an den Ort des schändlichen Geschehens, andere schauten sich die Trümmer erst am Nachmittag an. Heute berichtet diese Generation von damaliger Betroffenheit.

Im Stadtarchiv werden die Erinnerungen zweier jüdischer Mitbürger an diesen Tag verwahrt. Max Hirsch (1871-1950), Sohn der Gründers der Lederwerke Hirsch, 1909 als liberaler Kommunalpolitiker in den Bürgerausschuss gewählt und zwischen 1912 und 1919 eines der angesehensten Mitglieder des Weinheimer Gemeinderats, hat nach der Emigration am Jahresende 1939 seine Erinnerungen im Lissaboner Exil niedergeschrieben, Hugo Rothschild (1886-1976), Inhaber des Kaufhauses Gebrüder Rothschild und einfallsreicher Werber für die Einkaufsstadt Weinheim, hat seine Eindrücke ab 1963 in einem Briefwechsel mit den Oberbürgermeistern Rolf Engelbrecht und Theo Gießelmann festgehalten.

„Wir alle”, erinnert sich Max Hirsch und meint damit alle Männer der Familie Hirsch, „wurden früh morgens verhaftet, nachdem noch eine Hausdurchsuchung vorgenommen worden war. Unsere Synagoge wurde unter lauter Detonation mit Dynamit gesprengt und als wir, wie Verbrecher abgeführt, im Haftlokal anlangten, fanden wir dort sämtliche Männer der jüdischen Gemeinde bereits als Häftlinge vor. Ein Lastauto beförderte uns zunächst unter dem Gejohle einer ortsfremden Meute vor die zerstörte Synagoge, um uns recht drastisch das Ende unserer Gemeinschaft vor Augen zu führen”.

Auch Hugo Rothschild berichtet von frühmorgendlichem Besuch: Zwei Männer durchsuchten die Geschäfts- und Privaträume, brachten Rothschild in den Keller des Rathauses und anschließend im offenen Polizeiwagen zur zerstörten Synagoge und weiter ins Landesgefängnis Mannheim. „Unser Auto wurde von Söhnen so genannter ‚erstklassiger’ Weinheimer Familien noch extra begleitet, damit ja niemand von uns vielleicht verschwinden konnte”.

Das Landesgefängnis Mannheim war für die jüdischen Männer aus der Region allerdings nur Zwischenstation. Noch am gleichen Abend wurden sie im Sammeltransport nach Karlsruhe gebracht. Dort wurden alle über 60 Jahre alten Verhafteten abgesondert und wieder in die Heimat zurückgebracht. Festgehalten wurden die Jüngeren, alle Vorstände und Mitarbeiter der jüdischen Kultusgemeinden und Vereine – und die Hirschs. Max Hirsch, damals 67 Jahre alt, sein Bruder Julius (64) und ihre Söhne Arthur (40) und Dr. Fritz Hirsch (36) wurden mit annähernd 1.000 Schicksalsgenossen ins Konzentrationslager Dachau gebracht.

„Gleich Schwerverbrechern oder Hochverrätern” wurde der Transport „wie eine Hammelherde in die wenigen bereit stehenden Güterwagen getrieben, die zum Bersten mit Menschen vollgestopft wurden, so dass man in den vollständig verschlossenen Waggons kaum Atem schöpfen konnte”, erinnert sich Hirsch und auch aus den Rothschild-Briefen erfährt man: „In Dachau angekommen, wurden wir mit unglaublichem Schreien und Geheul von scheinbar speziell trainierten jungen SS-Leuten empfangen, und wer nicht schnell genug von dem hohen Waggon-Ausgang herunterhüpfen konnte, hatte nichts zu lachen”. Max Hirsch hatte nichts zu lachen: Er sprang aus dem Waggon, verletzte sich und ein zweiter Häftling fiel auf ihn. Der SS-Offizier jagte den stark Gehbehinderten, den sein Sohn stützen musste, in die Kolonne zurück.

In Dachau wurden rund 15.000 jüdische Männer aus Süddeutschland und Österreich in den doppelt belegten Baracken zusammengepfercht. Max Hirsch: „Nach der Abgabe von Kleidung und Geld erhielten die Häftlinge einen blauweiß gestreiften Drillichanzug, Hemd, Wollstrümpfe und derbe Schnürstiefel, trotz des Winters aber keine Unterkleidung, keine Kopfbedeckung und keinen Mantel. Die an Hose und Rock angenähte Häftlingsnummer löschte die Individualität aus”. Für viele Kranke und Alte wurden die drei Zählappelle pro Tag zum Todesurteil.

Hugo Rothschild: „Am nächsten Tag kamen wir alle unter eiskalte Duschen, es wurden uns überall die Haare abgeschnitten, wir bekamen Pyjamas (blau/weiß gestreift) mit Nummern zum Annähen, vorher mussten wir alle Kleider, Uhren etc. abgeben, dann wurden wir mit extra großen Nasen photographiert und mussten später diese Bilder mit unseren Namen unterschreiben”.

Die Gefangenen, auch die Kranken, standen nach Max Hirschs Erinnerung in den nächsten Tagen bei Regen und Kälte in dünnem Drillichanzug und ohne Kopfbedeckung oft stundenlang im Freien. Sie hatten keine Kleider zum Wechseln und steckten sich in ihrer Not alte Zeitungen unter die Kleidung. Dann tönte es aus dem Lagerlautsprecher: „Jeder Schutzhaftjude, der mit Papier unter der Kleidung angetroffen wird, wird mit 25 Stockhieben bestraft!”.

Für die Freilassung ihrer Männer kämpften derweil in Weinheim die Frauen Hirsch und Rothschild. Die Entlassung war nur bei der Gestapo zu erreichen und nur mit dem Nachweis der Auswanderungsabsicht. Nach drei Wochen Lagerhaft wurden Max, Julius und Arthur Hirsch entlassen, mussten zuvor aber die Erklärung unterschreiben, dass sie keine Schadens- oder andere Ansprüche stellen und zu niemandem über ihre Lagererlebnisse sprechen werden. Auch Hugo Rothschild wurde nach einigen Wochen Lagerhaft entlassen, weil er im 1. Weltkrieg Frontsoldat war, seine beiden Brüder sogar gefallen waren und er in Weinheim einen guten Namen hatte.

Um die Jahreswende 1938/39 verließen die Familien Hirsch Weinheim und Deutschland. Hugo und Fanny Rothschilds blieben zunächst in Weinheim, zogen 1939 nach Mannheim und wurden dort am 22. Oktober 1940 verhaftet und nach Gurs verschleppt. 1941 nutzten sie die letzte Möglichkeit zur Emigration.

Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 09.11.2006

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