Das Anwesen im Müll war plötzlich „judenrein”
Am Abend des 22. Oktober 1940 gab es die Familien des Metzgermeisters Hermann und des Immobilienmaklers Raphael Hirsch in Weinheim nicht mehr
Wenn Badens verbrecherischer Gauleiter Robert Wagner am Abend des 22. Oktober 1940 stolz seinem „Führer” meldete, der NSDAP-Gau Baden sei „judenrein”, dann galt das auch für das Anwesen Müllheimer Talstraße 24. Aus ihm waren am frühen Morgen alle Angehörigen der Familien Hirsch abgeholt und zu den Deportationszügen nach Mannheim gebracht worden: Betty Hirsch (61), ihre Tochter Recha Martha (30) und Enkelin Doris (7), ihre Schwester Rosa (57) und ihr Schwager Raphael, genannt Rudolf Hirsch (63). Betty Hirschs Ehemann Hermann Hirsch war am 13. September 1940 in einer Mannheimer Klinik im Alter von fast 67 Jahren verstorben. Er wäre das 6. Deportationsopfer der Familie Hirsch geworden. Die Volkskartei mit den Hirsch’schen Lebensdaten wurde am 23. Oktober 1940 von der Stadtverwaltung Weinheim mit der Bemerkung geschlossen: „unbekannt abgeschoben”.
Hermann Hirsch war 1899, Raphael Hirsch 1908 aus dem Geburtsort Birkenau nach Weinheim umgezogen. Die Hirschs zählten zu den ältesten jüdischen Familien in Birkenau und waren seit Generationen als Viehhändler und Schlachter tätig. Der älteste bekannte Hirsch war Kuschel Hirsch (1750-1829). Er hatte drei Kinder. Kuschels Sohn Hirsch Hirsch (1796-1872) zählte 1842 zu den „zur Judengemeinde zu Birkenau gehörenden Individuen”, die der Großherzoglich Hessische Steuerkommissär in der Liste der Steuerzahler erfasst hatte. Hirsch Hirsch und seine Frau Schannet hatten fünf Kinder. Der jüngste Sohn David, 1836 geboren, wurde 1872 zum Vorsteher der jüdischen Gemeinde Birkenau gewählt. David Hirsch war in erster Ehe mit Karoline Mannheimer verheiratet. Sie kam aus einer in Birkenau sehr einflussreichen jüdischen Familie und starb 25-jährig bei der Geburt ihrer Tochter Malchen. Davids zweite Ehefrau Sannchen Meier aus Reichenbach gebar acht Kinder, darunter die Söhne Hermann (1873) und Raphael (1877), die dann nach Weinheim umzogen.
Hermann Hirsch, Viehhändler und Metzger, war bereits mit Auguste Freudenthaler aus Eggingen bei Ulm verheiratet, als er am Jahresende 1899 nach Weinheim kam. Das junge Paar wohnte im Hause von Metzgermeister Adam Sattler an der hinteren Hauptstraße und das lässt vermuten, dass er in der Metzgerei zwischen „Ratskeller” und „Schwanen” (heute Altenwohnheim) arbeitete. Im Juni 1906 zogen Hermann und Auguste Hirsch mit ihren Kindern Gustav, Irma und Alma in das Haus Zimmermann bei der Höllenstaffel. Am 16. Oktober 1906 starb Auguste Hirsch im Alter von 27 Jahren und vier Tage später musste der 33-jährige Witwer auch noch seine gerade mal fünf Monate alte Tochter Alma begraben.
Ob Hermann Hirsch nach dem Tod von Frau und Tochter mit seinen Kindern Gustav und Irma nach Menzingen im Kreis Bretten zog oder die Kinder in dem heutigen Ortsteil von Kraichtal (Landkreis Karlsruhe) in Obhut gab, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Gustav Hirsch, das erste Kind in Hirschs erster Ehe, starb jedenfalls 1908/1909 in Menzingen im 5. Lebensjahr und aus Menzingen stammte Hirschs zweite Ehefrau Betty Herzog. Die Hochzeit fand im März 1907 statt und in dieser Zeit war Hermann Hirsch in Weinheim im Hause Zimmermann gemeldet. Im Sommer 1929 wurde das Anwesen Müllheimer Talstraße 24 Eigentum des Metzgermeisters, der an der Straßenfront ein Ladengeschäft betrieb.
„Ins Hersche Houf”, im großen Hof des stattlichen Anwesens im Müll (später Schreinerei Dietz), spielten Irma, die Tochter aus erster Ehe, und die fünf Kinder von Betty und Hermann Hirsch mit den Kindern aus der Nachbarschaft. Eines von ihnen war Daniel Horsch, der im 1. Weltkrieg seinen Vater verloren hatte und mit seiner Mutter Barbara ein paar Häuser weiter wohnte. Die Horschs pflegten gute Beziehungen zu den jüdischen Mitbürgern. Der spätere Leiter des städtischen Ordnungsamtes bezeichnete diese Kontakte einmal als Motivation für seine Erinnerungsschrift an die jüdische Gemeinde Weinheim. 1966 kam „Sie waren unsere Bürger” als Weinheimer Geschichtsblatt heraus und bildet bis heute eine wichtige Grundlage für die Beschäftigung mit dem Judentum in Weinheim.
Daniel Horsch, dessen Mutter in einem jüdischen Haushalt „gedient” hatte, wie man damals sagte, und dessen Großvater Meister im jüdischen Rosslederwerk Sigmund Hirsch war, hat sich 1989 an seine Jugend im Müll und an die Familien Hermann und Raphael Hirsch erinnert. Darüber berichten wir im nächsten Beitrag.
Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 31.05.2007