Rede des Abgeordneten Grimm
Sitzung des Badischen Landtags vom 3. Juni 1831 bei der erstmaligen Diskussion über die Frage der politischen Emanzipation der badischen Juden
„Ich habe mich erhoben, nicht in der Absicht, die Ansichten zu bekämpfen oder zu unterstützen, die ich soeben gehört habe; ich habe mich erhoben, um meine Abstimmung über einen wichtigen Gegenstand zu motivieren. Ich gestehe, daß ich über die gegenwärtige Frage in einigem Zwiespalt mit mir selbst stehe, indem ich sie aus verschiedenen Gesichtspunkten betrachte, einmal aus meinem persönlichen und dann aus dem Gesichtspunkte meiner Stellung als Abgeordneter. Aus meinem persönlichen Gesichtspunkte betrachtet, ist die Frage über die Emanzipation der Juden bereits entschieden und zwar in folgenden Sätzen: Der Jude ist badischer Staatsbürger, der Jude erfüllt alle Pflichten, die ihm als Staatsbürger obliegen, er erfüllt sogar die schwerste der Pflichten, die deshalb die schwerste ist, weil sie nicht, wie andere Lasten, auf die Schultern der Untertanen gleich verteilt werden kann, er entrichtet die Menschensteuer; er erfüllt die Konscriptionspflicht, er besitzt überdies all die Eigenschaften, die von dem Mitgliede einer Gesellschaft gefordert werden können, nämlich die geistigen Anlagen und die Tätigkeit, die ihn fähig machen, die Zwecke der Gesellschaft zu erfüllen. Besitzt er aber diese Eigenschaften, erfüllt er die Pflichten des Staatsbürgers, so gebühren ihm auch die Rechte des Staatsbürgers.
Abbildung: Albert Ludwig Grimm
Prüft man die Gründe, die gewöhnlich entgegengesetzt werden, so vereinigen sich zwei Hauptgründe in einem einzigen, der auf der Religion der Juden beruht. Die Religion und die damit verbundenen Gebräuche, sagt man, sind es, die den Juden zu sehr von seinen christlichen Mitbürgern scheiden; die aus der Religion der Juden herstammende Trennung mache sie unfähig, die Mitglieder eines anderen Staats zu werden, als des durch inneren Zusammenhang aller Bekenner ihres Glaubens bestehenden Staats, des auserwählten Volkes Gottes. Sodann wird auch noch behauptet, ihre Gesetze widersprächen der Erfüllung ihrer Bürgerpflichten, schrieben ihnen sogar entgegengesetzte Regeln vor. Ohne Frömmler zu sein, denn Frömmelei hasse und fliehe ich wie die Sünde, die sie erzeugt und deren Folge sie gewöhnlich ist, halte ich doch die Religion für das höchste Gut im Menschen. Aber eben weil ich sie so hoch halte, will ich sie nicht vermengt wissen mit den Interessen der Erde, mit den Einrichtungen für materielle Zwecke, nicht vereinigt mit den Interessen des Staats und der Politik. In meinem Innern abgeschlossen ruht mein Glaube, meine Erkenntnis von einem göttlichen Wesen, von meiner Beziehung zu demselben, von der Fortdauer nach diesem Leben. Mit der Außenwelt steht dieser Glaube nur insofern in Berührung, als er mich tugendhaft macht, als er meine Handlungsweise gegen meine Nebenmenschen zu ihrem Besten bestimmen kann. Mit dem Staatsverband steht er in keiner Verbindung, als inwieweit er in mir ein Pflichtgefühl erweckt oder nährt, mich geneigt macht, meine Pflichten gegen die Gesellschaft und die Mitglieder derselben zu erfüllen. In dieser Beziehung allein liegt auch das Interesse des Staats, die höheren religiösen Zwecke zu fördern, weil in der Religion alle die Tugenden wurzeln, durch welche die Staatsgesellschaft enger verbunden wird. Den Staat kann es deshalb nicht kümmern, ob ich das göttliche Wesen als einen Vater der Liebe, als einen Gott der Erbarmung verehre oder fürchte, als den starken eifrigen Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied. Er fragt nicht, ob ich noch die Erscheinung des Messias erwarte oder ob ich mich durch den Kreuzestod des Mittlers mit meinem Gott versöhnt glaube. Er fragt nicht, ob ich mir den Zustand der Seeligen nach dem Tode als einen Sitz im Schoße Abrahams oder als ein Vereintsein mit Gott und der Anschauung desselben vorstelle. Er fragt nicht, ob ich Gott ganz im Stillen oder mit Opfern und Zeremonien und lautem Gepränge verehre. Es genügt ihm schon und muß ihm genügen, wenn ich als Mitglied des Staats durch meine Gottesverehrung nicht gehindert werde, pflichtgetreu und rechtschaffen zu leben und zu handeln.
Daß es aber dem jüdischen Glauben nicht widerspreche, die Pflichten gegen seine Mitbürger und selbst diejenigen Pflichten zu erfüllen, die zu erfüllen ein durch das Christentum gebildetes Gemüt getrieben wird, davon hat gewiß jeder von Ihnen, ich selbst habe Beweise genug. Ich wenigstens kenne Juden, die mehr christliche Werke üben, als viele Christen, die ihr Christentum noch zur Schau tragen. Man wird mir entgegnen, das seinen seltene Ausnahmen, das seien keine Juden mehr. Nein, es sind Juden, die treu und fest an dem Glauben ihrer Väter hängen, und es sind die Ausnahmen nicht seltener, als bei den Christen im Verhältnis zu der Zahl der Glaubensbekenner. Man macht den Juden den Vorwurf, ihre Religion trenne deren Bekenner als Nation von anderen Nationen. Es ist wahr, daß die mosaische Gesetzgebung als eine theokratische religiöse und politische Vorschriften künstlich ineinander gemischt hat, um dieses Volk unter den Heiden als ein getrenntes zur Reinhaltung seines Glaubens zu erhalten; es ist wahr, daß die Juden durch den Hinblick auf die Geschichte ihres Volkes, durch ihre Nationalsprache, ihre Sitten gewissermaßen noch immer ein eigenes Volk unter den meisten Völkern der Erde bilden. Es wurde deshalb entgegnet, die Juden sollten erst Badener werden, sie sollten ihre Nationalität als Juden ablegen und darnach wollten wir sie uns gleichstellen. Ich kehre aber die Forderung um, meine Herren, machen Sie die Juden erst zu Badenern und Sie werden künftig diese Nationalität, die Ihnen jetzt ein Stein des Anstoßes ist, verschwinden sehen. Werden Sie denn Ihr Bürgerrecht in Baden aufgeben, um dann erst hinzugehen und sich in einem anderen Staate ein Bürgerrecht zu erwerben? Wird eine weise Regierung ihre Bürger aus einem Staatsverband entlassen, ohne daß sie vorher von einem anderen Staate die Versicherung bringen, daß sie in diesem Falle von jenem Staate als Bürger aufgenommen werden? Ich kann nicht so ungerecht sein, daß ich eine eigene Schuld auf Rechnung eines Andern setzen möchte.
Ein Volk, auf der ganzen Erde zerstreut, von allen Völkern verfolgt, bedrückt und verachtet, das sich jetzt noch von den allgemeinen Rechten seiner Mitbürger ausgeschlossen sieht, wird durch sein Schicksal auf sich selbst beschränkt und dadurch zum festeren Zusammenhalten gezwungen. Es muß in den Verheißungen seiner Propheten, in dem Hinblick auf seinen ehemaligen Ruhm und Glanz und in der Hoffnung künftiger Erhebung durch seinen Messias Trost suchen für den Druck der Gegenwart. Gleiche Ungunst des Schicksals, insbesondere gleiche Bedrückung verbindet stets die Bedrückten untereinander und um so fester, je ungerechter der Druck ist. Man nehme den Druck weg, und das Band, das die Juden vom äußersten Osten bis zum äußersten Westen zur Zeit noch zusammenhält, wird locker werden und nach wenigen Generationen ganz gelöst sein. Man entgegnet ferner, die Gesetze der Juden, ihre Glaubenslehre widerstritten der Erfüllung der Bürgerpflichten, sie schrieben ihnen sogar entgegengesetzte Regeln vor. Ich will die Wahrheit dieser Behauptung nicht prüfen; es drängt sich mir aber doch der Gedanke, die unleugbare Wahrheit auf, daß unter den Bekennern des mosaischen Glaubens so manche Männer leben, die durch Grundsätze, durch Handlungen der Rechenschaft und Tugend sich selbst vor vielen Christen auszeichnen. Und es muß dadurch jene Behauptung geschwächt werden. Gesetzt aber es sei etwas Wahres daran, gibt es denn nicht auch christliche Sekten, die zuweilen auch Grundsätze haben, die den bürgerlichen Einrichtungen, sogar den Forderungen des Staates ebenfalls widersprechen? Wurden früher nicht sogar die Bekenner einer gewissen Sekte von dem persönlichen Militärdienst frei gelassen, weil der Militärdienst gegen ihre Grundsätze streitet? Ich verlange nicht, daß der Staat sich nach solchen Eigenheiten in seinen allgemeinen Forderungen richte, daß er etwa gar eine Ausnahme hier mache. Nein, wer in eine Gesellschaft tritt, muß sich den Statuten derselben fügen. Mag der Staat immer streng und fest auf seinen Forderungen an alle seine Angehörigen halten, mag er fest darauf bestehen, daß kein Bürger durch einen andern in seinen bürgerlichen Rechten gekränkt oder in seinen äußeren Verhältnissen gestört werde. Was aber außer diesem Kreise liegt, davon nehme er keine Notiz.
Ein anderes Aussehen aber gewinnt die Sache, wenn ich sie von dem Standpunkte als Abgeordneter im Geiste meiner Kommittenten betrachte. Es ist nicht zu leugnen, daß ein entschiedener Widerwille gegen die Juden, besonders unter den Landleuten, und jetzt wieder mit neuer Macht herrscht, daß die Juden in den Orten, worin eine große Anzahl von ihnen lebt, wie z. B. in vielen grundherrlichen Orten des Landes der Fall ist, zum Teil durch eigene Schuld sich verhasst gemacht haben, daß die Meinung und Stimmung allgemein gegen sie ist. Ich erlaube mir, Ihnen einen Beleg dafür zu geben, der mir in diesen Tagen zugekommen ist. Es ist eine von einem ganzen Ortsvorstand an mich gerichtete Schrift, welche Klagen über die Bedrückung der Christen durch die Juden enthält. Diese Gemeinde klagt darin über den Emporschwung der Juden in Baden; sie suchten mehr und mehr die Christen zu unterdrücken, der Ort sei gegenwärtig mit 23 Judenhaushaltungen angefüllt und wisse sich nicht mehr zu schützen; denn alle Juden trieben den Schacherhandel. Man habe mehrere von ihnen durch die Nötigung der Obrigkeit als Ortsbürger aufnehmen müssen. Ihre Geschäfte aber, die bei den Allmendteilungen verrichtet werden müssen, ließen sie durch christliche Personen versehen; die zu leistenden Frohnden leisteten sie nicht selbst, sondern ließen sie durch Christen besorgen und bedienten sich noch dabei des Ausdruckes: „Wir sind allein das auserwählte Volk Gottes und Ihr Christen müsst uns unser Brot verdienen” usw.
Ich könnte noch mehrere Belege dieser Art mitteilen, bin aber überzeugt, daß viele von Ihnen dieser Belege nicht bedürfen. Was soll aber nun der Abgeordnete tun? Zwar sagt der § 48 der Verfassung: die Ständeglieder sind berufen, nur nach eigener Ueberzeugung abzustimmen, sie dürfen von ihren Kommittenten keine Instruktionen annehmen. Da ich mir aber nicht zutrauen darf, über eine Frage, die so viel für und wider sich sagen lässt, zu entscheiden, so frage ich, soll ich mich den Wünschen meiner Kommittenten zufolge gegen diese Frage entscheiden? Ich habe bei Eröffnung des Landtags den Verfassungseid geschworen. Er verpflichtet die Ständeglieder für des ganzen Landes allgemeine Wohl, ohne Rücksicht auf besondere Stände nur nach eigener Ueberzeugung zu stimmen. Wohlan, ich lege die beiden Ansichten in die Wagschalen; in die eine meine persönliche Ueberzeugung, in die andere die Wünsche meiner Kommittenten, und die Wage steht inne. Ich lege zu den letzteren die zum Teil begründeten Beschwerden des Volkes seine zum Teil begründeten, größtenteils aber ungegründeten Besorgnisse, vermengt mit einer Masse von angeerbtem Vorurteil; die Wage will sinken. Ich lege zu meiner persönlichen Ansicht die Gründe der Humanität und des Rechts, die lebendige Ueberzeugung, daß nur das Wohl desjenigen Staates gedeihen kann, der gegen alle seine Angehörigen gerecht ist. Meine Schale sinkt ! Ich stimme für die Emanzipation der Juden.
Quelle: Gustav Allgayer: Albert Ludwig Grimm. Sein Leben, sein öffentliches und literarisches Wirken, Heidelberg 1931, S. 84-89.