Suche

Suchen in:



  Hilfe

 

  •  

Prominentes Opfer des "Judenboykotts"

Stadtgeschichte: Nach dem 1. April 1933 wurde es einsam um Dr. Moritz Pfälzer

Als [P378.Dr. Moritz Pfälzer] zu Jahresbeginn 1936 in einem Frankfurter Krankenhaus gegen eine schwere Krankheit ankämpfte, hatte ihn der Gau Baden des Bundes National-Sozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ) bereits abgeschrieben - bis auf eine Restschuld von 3 RM auf den Kammerbeitrag für 1935, dessen Überweisung bei Pfälzers in Frankfurt lebender Tochter Edith Varro angemahnt wurde. Am 8. März 1936 starb Dr. Pfälzer in Frankfurt.

Kein Nachruf auf den Anwalt

In Weinheim nahm offiziell davon niemand Kenntnis: kein Nachruf auf den Anwalt, der die größten Weinheimer Unternehmen und die Stadt Weinheim vertreten hatte, kein Erinnern an den liberalen Kommunalpolitiker, der im Bürgerausschuss für seine Heimatstadt und ihre Bürger gewirkt hatte. Am 11. März 1936 wurde der Name Dr. Moritz Pfälzer in der Anwaltsliste des Amtsgerichts Weinheim gelöscht. In nüchternen Worten teilte der Vorstand des Amtsgerichts, Dr. Ludwig Kampp, diese mit Pfälzers Ableben begründete Entscheidung am 20. März 1936 dem Reichsjustizministerium in Berlin und dem Präsidenten der Rechtsanwaltskammer Karlsruhe mit. Der Kammerpräsident hatte die Nachricht von Dr. Pfälzers Tod bereits am 12. März vom Mannheimer BNSDJ-Fachgruppenleiter Dr. Ludwigs erhalten, verzichtete bei seinem Beileidsschreiben an Laura Pfälzer am 13. März 1936 allerdings auf den seit 1933 allen Behörden vorgeschriebenen "deutschen Gruß".

Um Dr. Moritz Pfälzer war es nach dem "Judenboykott" der Nationalsozialisten am 1. April 1933 einsam geworden. Der renommierte Anwalt war in Weinheim eines der prominentesten Opfer der ersten reichsweiten Aktion zur Verdrängung der Juden aus dem Wirtschafts- und Gesellschaftsleben. Ein Entschädigungsverfahren, das 1961 von Edith Varro beim Landesamt für Wiedergutmachung in Karlsruhe angestrengt wurde, bestätigte die Wirkung des "Judenboykotts" auf die Anwaltspraxis Dr. Pfälzers, der in den Jahren 1933/1934 in seiner anwaltlichen Tätigkeit "wesentlich" beschränkt wurde und deshalb seine Angestellten entlassen musste.

Keine Altersversorgung

Ab 1. Januar 1935 wurde Dr. Pfälzer endgültig aus seiner Berufstätigkeit verdrängt. Zu diesem Zeitpunkt - im Vorfeld des Erlasses der Nürnberger Gesetze

- konnte eine jüdische Anwaltspraxis nicht mehr verkauft werden, und damit verlor Dr. Pfälzer auch die Möglichkeit einer Alters- und Hinterbliebenen-Versorgung. Auf den Verlust des Praxiswertes gründete 1961 denn auch der Entschädigungsanspruch, der nach längerem Streit um die Höhe der Praxiseinnahmen vor dem 30. Januar 1933 auf 5.694,92 DM festgesetzt und vom Landesamt für Wiedergutmachung schließlich auf "volle 5.695 DM aufgerundet" wurde.

Privat ist von Dr. Moritz Pfälzer wenig bekannt. Er war mit der Straßburgerin Laura Martha, geborene Elsner, verheiratet und hatte zwei Töchter: Gertrud Erika, geboren 1906, und Edith Luise, geboren 1909.

Boden wurde zu heiß

In einem Brief an das Stadtarchiv, mit dem sie sich im Juni 2000 bei den Autoren

der Stadtgeschichte zwischen 1933 und 1945 bedankte ("many thanks for his great work"), erzählte Gabrielle Varro, in Paris lebende Enkeltochter von Moritz und Laura Pfälzer ein bisschen aus der Familiengeschichte. Laura Pfälzer emigrierte ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes nach Mailand. Dort lebte seit 1932 ihre jüngere Tochter Edith als Lehrerin. Aus der Ehe mit dem Ungarn Varro stammt Gabrielle Varro, 1938 geboren, die Briefpartnerin des Stadtarchivs.

1940 wurde der Familie Varro der Boden im faschistischen Italien zu heiß. Sie bemühte sich um eine Einreiseerlaubnis für die USA, scheiterte aber an den Einwanderungsquoten und lebte bis 1945 in Venezuela. Nach Kriegsende wurde die

Übersiedelung nach Amerika möglich, wo seit 1939 bereits die ältere Pfälzer-Tochter Gertrud Erika lebte. Beide Pfälzer-Töchter leben inzwischen nicht mehr. Edith Varro starb 1984 in ihrer Wahlheimat Paris. Im März 1978 hat sie mit ihren einstigen Klassenkameraden am Realgymnasium Weinheim den 50. Jahrestag ihres Abiturs gefeiert und dabei als einzigen noch lebenden Lehrer Dr. Ernst Kappler (85), ihren Latein- und Geschichtslehrer, wieder getroffen. 1928, im Jahre ihres Abiturs, habe es an ihrem Gymnasium nicht viele jüdische Schüler gegeben, und ganz wenige jüdische Mädchen, erzählte Edith Varro ihrer Tochter Gabrielle nach der Rückkehr aus Weinheim. Das Wiedersehen mit den einstigen Klassenkameraden, die Rundfahrt durch ein Weinheim, das sie kaum wiedererkannte, und das bewegende Zusammensein in der vertrauten "Fuchs'schen Mühle" hatten Edith Pfälzer-Varro tief beeindruckt. "Sie hat bis zu ihrem Lebensende immer wieder davon gesprochen", erinnerte sich ihre Tochter.

Gertrud Erika Pfälzer, über deren Lebensweg wenig bekannt ist, starb zu Beginn des Jahres 2000 in Washington. Sie wurde 93 Jahre alt. Ihrer Nichte Gabrielle vermittelte sie den Eindruck, dass auch sie ihre Jugend in Weinheim nie vergessen hat: "Sie war sehr glücklich in Weinheim!"

Heinz Keller, erschienen in den "Weinheimer Nachrichten" vom 11.09.2008

Zurück zur DokumenteübersichtZurück zum Seitenanfang