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Mutige Männer retteten zwei Frauen das Leben

DIE REGION 1945 (11): Im Februar 1945 drohte Grete Siehl und Else Sernatinger der Transport ins Vernichtungslager

Im Februar 1945 lebten noch zwei Volljüdinnen, wie Töchter jüdischer Eltern im nationalsozialistischen Sprachgebrauch genannt wurden, in Weinheim: Grete Siehl und Else Sernatinger. Ihr bisheriges Überleben verdankten sie der Ehe mit einem arischen Deutschen, die nach den Nürnberger Rasse-Gesetzen "zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" als "Mischehe" galt.

Matthäus Siehl und Adolf Sernatinger hatten ihre Frauen bis dahin vor dem Schicksal der Verhaftung und Deportation bewahren, es ihnen aber nicht ersparen können, ständiger Bedrohung, Bedrängung und Demütigung ausgesetzt zu sein.

Margarete Florence Siehl stammte aus einem liberalen jüdischen Elternhaus in Frankfurt. Sie war getaufte protestantische Christin und heiratete 1928 den Weinheimer Unterlehrer Matthäus Siehl, der den 1. Weltkrieg als Freiwilliger begonnen und als Frontoffizier, ausgezeichnet mit Eisernem Kreuz und Ritterkreuz vom Zähringer Löwen, schwerkriegsbeschädigt beendet hatte.

Die Kriegserlebnisse machten Siehl zum Pazifisten und führten ihn zur Deutschen Friedensgesellschaft, 1925 auch zum Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, einem der Sozialdemokratie nahestehenden Wehrverband zur Verteidigung der Weimarer Republik. Als Führer der Reichsbanner-Jugend regte er 1928 an, in der Weinheimer Rosenanlage ein Denkmal zu Ehren des ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert zu errichten. Das machte Matthes Siehl nicht zum Freund der neuen Machthaber, die 1933 die erste Gelegenheit nutzten, ihn als Geschäftsführer der Jugendherberge Weinheim abzulösen und ihm mit der Verweigerung des Beitritts zur Reichskulturkammer auch die weitere Mitarbeit bei den Weinheimer Nachrichten zu verwehren.

Mit den Nürnberger Gesetzen und ihren schließlich 32 Sonderverordnungen für Juden und "Mischehen" wurde der Druck auf Siehl immer stärker, sich von seiner Frau und seinen Kindern zu trennen. Dass er dem Druck widerstand, beschleunigte 1937 seine Entlassung aus dem Schuldienst ebenso wie die unter "strengster Geheimhaltung" vom Kreisabschnitt Weinheim des NS-Lehrerbundes und vom Kreisschulamt Heidelberg formulierte politische Unzuverlässigkeit des "jüdisch versippten Beamten". Unter dem Berufsverbot, das auch für Privatunterricht galt, litt Frau Siehl ebenso wie unter den Schwierigkeiten, die man ihrem Mann auch in seiner neuen Tätigkeit als Versicherungsvertreter beim Gerling-Konzern machte. 1939 drängte die Partei den Konzern, Siehl zu entlassen, doch nach dem Einschreiten von Walter Köhler, badischer NS-Ministerpräsident aus Weinheim, und von Richard Freudenberg zog Gerling die Kündigung zurück. 1943 aber setzte sich das Landesarbeitsamt durch: Siehl wurde bei Gerling entlassen und bei Freudenberg dienstverpflichtet. Das war ein neuer Tiefschlag für die

Familie Siehl nach dem schrecklichen Jahr 1942, als sich Grete Siehls Schwester vor dem Abtransport nach Auschwitz das Leben genommen hatte, als ihr ältester Bruder und seine Frau aus Holland verschleppt wurden und irgendwo elend ums Leben gekommen waren, als eine neue Verordnung der Nürnberger Gesetze ihre Kinder von allem ausschloss, was Kinder ihres Alters taten, als die Tochter Brigitte die Benderschule, das heutige Werner-Heisenberg-Gymnasium, verlassen musste und Sohn Hans Martin erst gar nicht aufgenommen wurde. Diese menschenverachtenden Eingriffe in das Familienleben belasteten Grete Siehl mehr als ihre eigene Ausgrenzung - sie durfte sich auf keine Parkbank

setzen, nicht ins Kino, nicht ins Schwimmbad gehen und nicht mit der OEG nach Mannheim oder Heidelberg fahren - und mehr als die Verweigerung von Schutz durch ihre Evangelische Landeskirche. Nur von zwei, dem Christusbekenntnis treu gebliebenen Pfarrern erfuhr sie Beistand: vom Gemeindepfarrer der Johannisgemeinde, Karl Achtnich, der als Sohn einer Halbjüdin selbst der Bedrängung ausgesetzt war, und von dem als "stadtbekannter Judenfreund" verunglimpften Heidelberger Pfarrer und späteren Prälaten D. [Hermann Ludwig] Maas, der die Siehl-Kinder getauft hatte und als Gründer der "Kirchlichen Hilfsstelle für Nichtarierer (Büro Grüber)" in Baden den Siehls in schlimmsten Tagen im Rahmen seiner Möglichkeiten half.

Im Februar 1945 geriet Grete Siehl noch einmal in größte Lebensgefahr, als sie zum Transport ins Vernichtungslager Theresienstadt bestimmt wurde. Die Zivilcourage ihres Hausarztes, des in Weinheim sehr populären Arztes Dr. Rudolf Jahn, rettete ihr mit der Bescheinigung der Transportunfähigkeit in allerletzter Minute das Leben, das sie aber auch ihrem Ehemann verdankte, der mit dem Mut der Verzweiflung bei der Gestapo in Mannheim um seine Frau kämpfte.

Wie Grete Siehl überlebte auch Else Sernatinger die Schreckenszeit und auch sie verdankte ihr Leben einem tapferen Ehemann. Als Adolf Sernatinger erfuhr, dass seine Frau zur Gestapo nach Mannheim bestellt war, ließ er sie "verschwinden". In einem Versteck, das nur er kannte, überlebte Else Sernatinger, 1902 als Tochter des jüdischen Kohlenhändlers Louis Oppenheimer geboren und in der Lindenstraße aufgewachsen, mit dem Arier Sernatinger verheiratet und deshalb bis 1945 von den Judenverfolgungen verschont. Der tödlichen "Verschickung" seiner Frau kam Adolf Sernatinger mit seiner mutigen Entscheidung zuvor.

Verfasser: Heinz Keller,

veröffentlicht in "Weinheimer Nachrichten" vom 28.02.2005

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