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Mit Weinheim wollten sie nichts mehr zu tun haben

Als Juden wurden sie vertrieben, ins Ausland konnten sie sich retten, ihre Angehörigen aber wurden ermordet

Nicht alle ehemaligen jüdischen Bürger Weinheims folgten im Mai 1979 der Einladung von Oberbürgermeister Theo Gießelmann zu einem Wiedersehen mit ihrer alten Heimat, aus der sie vor dem Druck der Nationalsozialisten 40 Jahre zuvor geflüchtet waren. Lore und Beate Schloß, Töchter des Schuhkaufmanns Leopold Schloß (Schuhhaus Hirsch/heute pro optik), wollten nach dem Ende des Krieges und der NS-Herrschaft mit ihrer Geburtsstadt Weinheim nichts mehr zu tun haben.

Sie konnten es nicht verwinden und nicht verzeihen, dass ihr patriotischer Vater an jenem berüchtigten 22. Oktober 1940 verhaftet und nach Gurs deportiert, später nach Auschwitz und letztlich nach Buchenwald verschleppt worden war, wo er im Alter von 46 Jahren im Februar 1945 getötet wurde.Ihren beiden Mädchen hatten Leopold und Gertrud Schloß im Mai 1939 die Teilnahme an einem der von England aus gesteuerten Kindertransporte ermöglicht, der ihr junges Leben rettete. Elf und neun Jahre alt waren Lore und Beate, als sie sich von ihren Eltern auf ein Nimmerwiedersehen verabschieden mussten. Ihre Mutter hat wohl die Trennung von den Kindern nicht verkraftet: sie starb im August 1940 in einer Heidelberger Klinik [verschiedene Angaben zu Todesdatum und Todesort]. Ihr blieb wenigstens das Schicksal ihres Mannes erspart. Ähnliche Gefühle wie die in London erwachsen gewordenen Schloß-Mädchen hegte Anni Liebmann gegenüber ihrer Heimatstadt. Der heutige Weinheimer Ehrenbürger Wolfgang Daffinger bekam das während seines zweisemestrigen Studiums 1952/53 an der Cornell Universität zu Ithaka im US-Staat New York zu spüren. Die ausländischen Studenten wurden zu Weihnachten 1952 in amerikanische Familien eingeladen. Gastgeber des späteren Landtagsabgeordneten und Weinheimer Bürgermeisters waren die Olsens, Amerikaner schwedischer Abstammung. Mit ihnen ging der damals 25-jährige Deutsche zur gemeinsamen Weihnachtsfeier, die im Rathaus einer Kleinstadt bei Buffalo für alle ausländischen Studenten stattfand. Einem Ehepaar, das an dieser Veranstaltung teilnahm, stellte er sich vor: "Daffinger, Germany". Die Dame wollte mehr wissen und gab sich auch nicht mit der Ortsbeschreibung "near Heidelberg" zufrieden. Auf ihre weitere Frage: "Wo genau?" antwortete Daffinger: "Weinheim". Das Gesicht der Frau versteinerte, sie wandte sich wortlos ab und ließ einen ratlosen jungen Deutschen zurück.Im Laufe des Abends erfuhr Wolfgang Daffinger, warum Mrs. Ney so abrupt reagiert hatte: sie war 1905 in Weinheim geboren worden als einzige Tochter von Betty und Heinrich Liebmann, die an der Hauptstraße (heute Wüstenrot/Spalek) das Kaufhaus Liebmann betrieben hatten, in dem man fast alle Textilien kaufen konnte. Anna Irma Liebmann, genannt Anni, hatte den Stuttgarter Juden Ney geheiratet und konnte, da die württembergischen Juden von der "Baden ist judenfrei"-Aktion des fanatischen Karlsruher Gauleiters Robert Wagner nicht erfasst wurden, mit ihrem Mann im Juni 1941 nach New Jersey emigrieren. Ihre Mutter Betty, geb. Dewald, war 1936 im Alter von 52 Jahren gestorben. Der Vater hatte in Weinheim ausgeharrt im Glauben, als gutem Weinheimer Bürger könne ihm nichts geschehen. Als 65-Jähriger wurde Heinrich Liebmann am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert, am 22. Mai 1944 nach Auschwitz gebracht und ermordet. Anni Ney-Liebmann konnte das Schicksal des Vaters nicht verwinden. Sie wollte mit ihrer Geburtsstadt Weinheim nichts mehr zu tun haben, musste aber zur Abwicklung verschiedener Dinge nach Kriegsende nach Weinheim kommen. Dabei vermied sie persönliche Begegnungen. Die schlimmen Erinnerungen prägten dann auch 1952 das unerwartete Zusammentreffen mit einem Weinheimer. Dennoch hatte der Weihnachtsabend ein gutes Ende: Anni Ney-Liebmann überwand eine Mauer, bat die Olsens um Zustimmung, dass sie ihren deutschen Gast mit in ihr Haus nehmen durfte, und machte in den vielen Gesprächen während der Feiertage einen Schritt auf ihre Geburtsstadt Weinheim zu. Als Wolfgang Daffinger anschließend mit seiner Mutter in Weinheim telefonierte, erinnerte sie sich an ihre Schulkameradin Anni Liebmann in der Pestalozzischule, kramte das alte Klassenbild heraus und schickte es dem Sohn und der alten Schulfreundin, von der sie bis dahin nichts mehr gehört hatte.

Heinz Keller, erschienen in den "Weinheimer Nachrichten" vom 22.09.2006

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