Die lange Suche nach einem Mädchen namens Doris
Nach zwei Jahren Spurensuche fand die Heilbronnerin Marianne Keller ihre Stiefschwester Doris Hirsch in Kalifornien
Am 15. Februar 1944 wäre die Kennkarte von Martha Recha Sara Hirsch, ausgestellt am 15.Februar 1939, abgelaufen. Der Landrat des Kreises Mannheim-Land musste den mit einem großen „J” überstempelten Personalausweis der Weinheimer Jüdin nicht mehr verlängern. Martha Hirsch, am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert und am 2. März 1941 nach Rivesaltes bei Perpignan, ein anderes Internierungslager im nicht besetzten Südfrankreich, verlegt, wurde am 26. August 1942 im Rahmen der „Endlösung der Judenfrage” über das Pariser Sammellager Drancy ins Vernichtungslager Auschwitz verschleppt und dort getötet.
In Rivesaltes befand sich ab 1941 ein Internierungslager der Vichy-Regierung. In der Barackenstadt wurden zunächst vor allem Familien untergebracht, auch die Familien Hirsch aus Weinheim. Als sich die Regierung Pétain im Juni 1942 verpflichtet hatte, 10.000 Juden aus der unbesetzten Zone Frankreichs an die Deutschen auszuliefern, wurde Rivesaltes zum Deportationslager, von dem aus die Menschen über Drancy in die Vernichtungslager in Osteuropa transportiert wurden. Die Hirschs wurden am 24. August 1942 in die von den Deutschen besetzte Zone Frankreichs gebracht: nach Drancy im Nordosten von Paris. Hier war der Gebäudekomplex „La Cité de la Muette”, zwischen 1932 und 1936 als eines der modernsten Architekturprojekte im 20. Jahrhundert errichtet, zum Sammellager für Juden gemacht worden, die deportiert werden sollten. Am 26. August 1942 verließ der Transport D 901/19 den Bahnhof Bourget/Drancy mit 1.000 Juden, darunter 400 Kindern in Richtung Auschwitz. Die Namen von Martha, Rosa und Rudolf Hirsch stehen in der Liste für den Transport Nr. 24, nicht aber der Name von Betty Hirsch, Marthas Mutter. Sie wurde wahrscheinlich mit einem anderen Transport nach Auschwitz gebracht. Die Transportlisten sind Teil des Buches über die Deportation von Juden in Frankreich, das die deutsch-französische Journalistin Beate Klarsfeld und ihr Mann, der französische Rechtsanwalt und Historiker Serge Klarsfeld, dessen Vater in Auschwitz ermordet wurde, 1978 veröffentlichten („Le Memorial de la déportation des Juifs de France”).
Den „Klarsfeld-Listen” ist die Heilbronnerin Marianne Keller 1995 begegnet. Seit 1987 suchte sie nach Hinweisen auf das Schicksal von Martha und Doris Hirsch, nachdem sie im Nachlass ihres verstorbenen Vaters Papiere gefunden hatte, aus denen hervorging, dass er der Vater von Doris Hirsch und Doris ihre Halbschwester war.
Die „Klarsfeld-Listen” bestätigten den Transport der Hirschs ins Vernichtungslager Auschwitz und machten ihr Schicksal zur traurigen Gewissheit. Doch was war aus der achtjährigen Doris geworden, die Martha Hirsch schweren Herzens am 12. Dezember 1941 im Lager Rivesaltes in die Obhut des französisch-jüdischen Kinderhilfswerks OSE gegeben hatte?
Marianne Keller macht sich auf die Suche nach ihrer Stiefschwester. Es wird eine mühselige, zeitaufwändige „Spurensuche”, wie Frau Keller ihre Erinnerungen daran überschrieben hat. Sie fährt nach Gurs, geht an mehr als 1.000 Grabsteinen entlang, findet aber keinen, der den Namen Martha Recha Hirsch trägt. Dafür erschließt sich ihr das Wort des französischen Dichters und Schriftstellers Louis Aragon: „Gurs – eine merkwürdige Silbe, wie ein Schluchzen, das einem in der Kehle stecken bleibt”. Marianne Keller wendet sich an den Internationalen Suchdienst in Arolsen, die jüdische Suchorganisation HIAS, sie gibt im „Aufbau”, einer deutschsprachigen jüdischen Zeitung in den USA, eine Suchanzeige auf, korrespondiert mit ehemaligen Weinheimer Juden – ohne Erfolg.
Am 11. Februar 1989, nach knapp zwei Jahren zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen, holt Marianne Keller einen Brief von Ernst Braun aus dem Briefkasten. Der gebürtige Weinheimer, der 1979 zusammen mit seinem Bruder Alfred und Oberbürgermeister Theo Gießelmann das erste Heimattreffen ehemaliger jüdischer Bürger organisierte, hatte über Nellie Neumann, Tochter des Kaufhauses Heil (heute Commerzbank), von dem engagierten Bemühen Marianne Kellers erfahren, ihre Stiefschwester zu finden. Unter den Anschriften, die Ernst Braun nennt, ist eine Frankfurter Adresse. Margot Hoffmann, ist die Cousine von Doris Hirsch: ihre Mutter Bella Elsa, genannt Else, war die ältere Schwester von Martha Hirsch. Über Margot Hoffmann kommt der Kontakt zustande und dann tritt ein, was sich Marianne Keller seit Jahren ersehnt hatte: in der Solothurner Straße in Heilbronn klingelt das Telefon, aus Monterey Park in Kalifornien meldet sich Doris Kappeler und sagt am Ende eines langen Gesprächs in fließendem Deutsch mit leichter hessischer Färbung: „Ich werde jetzt zur Arbeit gehen und sagen, dass meine Schwester angerufen hat, wo ich doch nie eine Schwester hatte!”. Im August 1989 kommt Doris Hirsch-Kappeler nach Deutschland. „Es ist gut, dass du mich gesucht hast!”, sind ihre ersten Worte, als sie ihrer Stiefschwester Marianne auf dem Flughafen gegenübersteht.
In Heilbronn erzählt Doris Kappeler aus ihrem bisherigen Leben, in Weinheim begegnet sie ihren Wurzeln. Mehr darüber im nächsten Beitrag.
Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 06.06.2007