Der schwierige Lebensweg des „Mädchens mit der Puppe”
Die Odyssee der Doris Hirsch, ihre Rückkehr nach Deutschland und die Suche nach einer neuen Heimat in den USA.
Mitten in Heilbronn sitzt uns eine Frau gegenüber und erzählt aus dem Leben ihrer Stiefschwester, von der sie bis 1981 nichts wusste, die sie zwei Jahre lang suchte und 1989 in Kalifornien fand, mit der sie sich in Deutschland und in Amerika traf. Doris Hirsch-Kappeler, am 22. Oktober 1940 als Siebenjährige aus Weinheim nach Gurs verschleppt, erfährt bei der ersten Begegnung mit der Heilbronner Tanzleiterin Marianne Keller, dass sie, die vermeintlich ohne Geschwister aufgewachsen ist, fünf Stiefschwestern hatte. Denn ihr Vater, der ihre in Auschwitz ermordete Mutter Martha Recha Hirsch 1933 nicht heiraten wollte, hat ein Jahr nach ihrer Geburt in Bruchsal geheiratet. Seine Frau gebar ihm vier Töchter, von denen bei dem ebenso verheerenden wie sinnlosen Luftangriff von 116 schweren US-Bombern auf Bruchsal am 1. März 1945 drei ums Leben kamen. Nur die Tochter Waltraud überlebte mit der Mutter den Tag, an dem über 1.000 Bruchsaler getötet wurden, derweilen die Allierten bereits am nahen Rhein standen. Waltraud wurde nun, zusammen mit ihrer 1946 geborenen Schwester Marianne, zu Doris Hirschs engster Verwandten.
Tagelang erzählen, weinen und lachen Doris, Marianne und Waltraud miteinander, als das lange gesuchte „Mädchen mit der Puppe” im August 1989 erstmals nach Deutschland kommt. Die Gefühle, die die Frauen damals bewegten, sind bis heute zu spüren, wenn Marianne Keller erzählt, wie sich das acht- bis zwölfjährige Kind an immer neue Orte und immer neue Gesichter gewöhnen, wie sie immer von neuem wieder Beziehungen aufbauen musste, um sie jedes Mal wieder zu verlieren, wenn sie den Zufluchtsort wechseln musste, weil sie oder die sie beherbergenden Menschen in Gefahr waren. „Allein diese Anstrengung und dieses Leid eines Kindes ist kaum zu ermessen”, sagt Marianne Keller.
Am 12. Dezember 1941 wurde Doris von der französisch-jüdischen Hilfsorganisation OSE (Oeuvre de Secours aux Enfants) aus der Baracke 27 in Camp Rivesaltes befreit, wie es in einem Personaldokument heißt. Als Achtjährige kam sie in ein Kinderheim der OSE in Montpellier, danach in einen Privathaushalt und wieder in Kinderheime in Grenoble und bei Marseille. Drei Monate lang lebte das Mädchen unter lauter Frauen in einer Frauenklinik, wurde dann von einer Familie in Pau aufgenommen, arbeitete danach in einem Bauernhof in der Nähe von Lourdes unter Nonnen und lebte nach der Befreiung Frankreichs in der Nähe von Paris. Letzte Station ihrer Odyssee war das jüdisch orthodoxe Kinderheim in Taverny.
1948 wurde die nur französisch sprechende Doris von einem Onkel aufgespürt und zu Verwandten nach Frankfurt gebracht, die vor den Nationalsozialisten nach Shanghai geflohen und kurz nach Kriegsende wieder nach Deutschland zurückgekehrt waren. Bei der Familie Herzog in Frankfurt lernte sie die Sprache ihrer frühen Kindheit wieder – mit hessischem Akzent. Mit Unterstützung der International Refugee Organization und mit einem Einreiseprogramm der US-Regierung für Deportierte kam die Siebzehnjährige im Frühjahr 1950 nach Amerika und lebte ein Jahr lang in der Familie von Henry Hirsch, dem als Hans Hirsch in Weinheim geborenen jüngsten Bruder ihrer Mutter Martha, in Los Angeles.
Doris Hirsch arbeitete als Näherin und beschäftigte sich bis zum Ruhestand 1998 mit Schnittmusterbogen. 1956 kam in der Ehe mit dem Schweizer Franz Kappeler ihre Tochter Linda zur Welt. In den 60-er Jahren wurde die Ehe geschieden, mit Partner Frank und der an Multipler Sklerose leidenden Tochter Linda lebt Doris heute in der Nähe von Los Angeles.
Im August 1989 kommt es in Heilbronn zu einem Familientreffen, an dem auch Shmuel Gogol teilnimmt. Der in Weinheim von seinen Gastspielen mit dem Israelischen Jugend-Mundharmonika-Orchester der heutigen Weinheimer Partnerstadt Ramat Gan bekannte Musiker und Dirigent hat in Auschwitz als Kind die Mundharmonika gespielt, wenn das „Lagerorchester” den Weg der Todeskandidaten in die Gaskammern musikalisch begleiten musste. Vielleicht hat auch Martha Hirsch seine traurige Melodie auf ihrem letzten Weg gehört …
Ein Abstecher führt Doris Hirsch von Heilbronn nach Weinheim, wo sie von Oberbürgermeister Uwe Kleefoot empfangen wird, wo sie aber auch Kurt Scheuermann, einen Spielkameraden in ihrer Kindheit an der Müllheimer Talstraße, zu einer bewegenden Begegnung trifft.
Eine Einladung der Stadt Weinheim zum zweiten Heimattreffen ehemaliger jüdischer Mitbürger lehnt Doris Hirsch ab: das erste Wiedersehen mit der Heimat seit fast 50 Jahren bescherte ihr nicht nur glückliche Momente, sondern erinnerte sie auch „an die schrecklichen Tage, als wir verhaftet wurden und auf dem Weg zum Marktplatz von Passanten als Sau-Juden beschimpft wurden”. Das hat sich in ihrer Erinnerung ebenso festgesetzt wie der Makel der unehelichen und dazu noch jüdischen Geburt und der Ausschluss vom gemeinsamen Schulgang mit den Nachbarskindern aus dem Müll: Doris durfte nicht in die Pestalozzischule, sondern musste die jüdische Schule in Heidelberg besuchen.
„Sie hatte ein Leben lang das Gefühl, unerwünscht zu sein”, glaubt Marianne Keller, die gerade deshalb den Kontakt zu ihrer Stiefschwester gern pflegt.
Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 11.06.2007