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Der Goi mit ä jüdischem Köpfchen

STADTGESCHICHTE: Wie Marx Maier zur Toleranz-Bekundung verführt wurde

Marx Maier machte also einen kleinen, nicht zu tiefen und damit reparablen Schnitt in seine Weste, weil er glaubte, er müsse nach alttestamentarischer Sitte um seine verlorene Tochter trauern: denn seine Älteste Frieda Diana, genannt Ada, wollte nicht von Hein Heckroth lassen, dem Mann, den sie liebte. Doch Hein war für den strenggläubigen Marx ein Goi, ein Nichtjude. Das war das Problem.

Frank Arnau, der mit Marx Maier und mit Hein Heckroth befreundete Frankfurter Schriftsteller, wollte das Problem lösen helfen: bei einer listig eingefädelten Kaffeestunde in seiner Wohnung, deren Ohrenzeugen, versteckt im benachbarten Zimmer, die beiden Verliebten sein sollten.

Wie das Gespräch mit Marx Maier verlief, hat Arnau in einem der 49 Kapitel seiner 1972 bei Kurt Desch unter dem Titel „Gelebt. Geliebt. Gehasst” erschienenen Erinnerungen amüsant geschildert. Maier sei um halb fünf gekommen und bester Laune gewesen, denn alle Karten für Weinheims Musikfest waren verkauft. An den Kuchen, den Arnaus Haushälterin reichlich besorgt hatte, sei er allerdings nur sehr zögerlich herangegangen, obwohl ihm der Gastgeber nachdrücklich versicherte, dass der Kuchen absolut koscher sei und in den Kaffeetassen niemals zuvor etwas trefe, also unsauber, gewesen war.

Arnau erzählte Marx Maier nicht ganz wahrheitsgetreu, dass er Alice Löwenherz liebe und sie heiraten möchte, der alte Löwenherz und seine Frau aber Nein sagten: „Sie wollen keinen Goi in der Familie”. Vater Maier, der den alten Löwenherz, einen Frankfurter Geschäftsmann, kannte, habe ihn nach diesem Bekenntnis groß angesehen und erklärt: „Verrückt! In unseren Tagen solche Meschuggas! Der Mensch soll’s nicht glauben. Froh sein kann er, der alte Löwenherz, wenn die Alice einen Mann wie Sie bekommt! Schön, Sie sind a Goi. Aber mit ä jüdisches Köpfchen. Ich hab’ mir sagen lassen, ä Goi mit ä jüdischem Köpfchen wiegt zwei Juden auf”.

Nach dem vierten Stück Kuchen sagte Vater Maier dem vermeintlich unglücklichen Arnau zu, er wolle mit dem alten Löwenherz sprechen: „Ich werde ihm sagen, mein Junge, dass er ein herzloser Vater ist. Schön, wenn Sie ein bigotter Katholik wären, meinetwegen, das ist nicht leicht, aber Sie sind evangelisch, hab’ ich mir sagen lassen, sogar ein Ausgetretener, ein Dissident, schließlich könnten Sie konvertieren …”.

Arnau hatte alle Mühe, ernst zu bleiben, ließ sich aber von Marx Maier nochmals bestätigen, dass er mit dem Vater von Alice reden und ihm empfehlen werde, seine Tochter dem Goi zu geben, der ja überdies ein Dissident sei und ein Protestant, früher sogar ein Calvinist war. Auch Heckroth war Protestant und danach Dissident.

„Ich werde Löwenherz morgen anrufen und mit ihm etwas verabreden”, versicherte Maier, „und er wird schließlich einsehen, dass Religionsfragen nicht entscheidend sind, wenn es um das Glück zweier junger Menschen geht, die sich lieben”.

Arnau pries nun die Toleranz von Marx Maier und öffnete die Tür zum Nachbarzimmer: Hein und Ada standen, Hand in Hand, auf der Schwelle.

Nach der großen Szene saßen alle Vier gemeinsam am Kaffeetisch: das junge Paar, Vater Maier, der nur zwei Stück Kuchen für „die Kinder” übrig gelassen hatte, und der Erzähler. Mit dem alten Löwenherz aber sprach Maier nie. Wahrscheinlich genügte ihm die einmalige Toleranz.

Im folgenden Jahr, 1924, heirateten Hein Heckroth und Ada Maier. Fast 50 Jahre später schloss Frank Arnau die Erinnerung an diesen Nachmittag mit den Worten: „Vater Maier, wahrlich eine Seele von Mensch, immer Gefühlen zugänglich, ein trotz demonstrierter Härte zutiefst gütiger Mensch, ruht längst im ewigen Frieden des Herrn, der unser aller gemeinsamer Gott ist, der Gott der Juden und der Christen und der Fremdgläubigen in West und Ost und Ost und West. Sie alle, die einst in Weinheim an der Bergstraße die Musikfestwochen beglückten, sind längst dahin”.

Nach der „Machtergreifung” Hitlers ging Hein Heckroth mit seiner geliebten Ada in die Emigration, 1956 kehrten beide nach Frankfurt zurück, 1970 starb der geniale Bühnenbildner und Film-Designer. Ada Heckroth folgte ihm im September 1994. Sie wurde 92 Jahre alt. Mehr über die Tiefen und Höhen im Leben von Ada und Hein Heckroth im nächsten Beitrag.

Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 31.12.2007

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