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Fürchte dich vor keinem, das du leiden wirst! Vom Schicksal eines evangelischen „Nichtariers” im Dritten Reich

Am 14. März 1937 wurde in Schriesheim Karl Heinz Klausmann konfirmiert. Sein Konfirmationsspruch lautete: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben” (1). Er war der Offenbarung des Johannes entnommen. Der vollständige Text des Verses lautet in der Übersetzung Martin Luthers:

"Fürchte dich vor keinem, das du leiden wirst! Siehe, der Teufel wird etliche von euch ins Gefängnis werfen, auf dass ihr versucht werdet, und werdet Trübsal haben zehn Tage. Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben" (Offenbarung 2,10).

Wollte Pfarrer Kaufmann (2), der nach alter Tradition den Konfirmationsspruch ausgewählt hat, dem damals knapp 15 Jahre alten Jungen Mut zusprechen, spürte er die Drangsal, die das Kind schon während seiner Schulzeit ertragen musste? Wir wissen es nicht – aber die Zumutung des biblischen Textes sollte sich rascher und unerbittlicher erfüllen, als sich das ein Jugendlicher vorstellen kann: Leid - durch Ausgrenzung und gewagte Flucht vor angekündigter Deportation verursacht; Gefangennahme - von unerbittlichen Häschern auch fern der Heimat erreicht; ein früher und gewaltsamer Tod – weil er das Leben suchte. Die folgenden Darlegungen wollen das kurze Leben dieses Jungen, der zum Opfer einer schleichenden, von einer eifrigen Verwaltungsbürokratie vollzogenen und von der Mehrheit seiner Zeitgenossen wehrlos beobachteten Entrechtung und Verfolgung wurde, der drohenden Vergessenheit entreißen.

Kindheit und Jugend in Schriesheim (1922-1937)

Karl Heinz wurde am 6. Mai 1922 in Mannheim als uneheliches Kind der Margarethe Fulda und des aus Gimbsheim stammenden und erst nach der Geburt des Kindes 1922 für etwa drei Monate in Mannheim wohnhaften Arztes Ernst Hirsch geboren. Beide Eltern waren jüdischer Abstammung. Durch Vermittlung einer Frau H.[***] aus Schriesheim nahmen der Gärtner Kamill (Camill) Klausmann und seine Ehefrau Maria Katharina, geb. Hartmann, das Kind wenige Tage oder Wochen nach seiner Geburt in Pflege (3). Hierfür zahlte der in Mannheim lebende Großvater des Kindes, der Arzt Fritz Fulda, eine monatliche Vergütung in Höhe von 35 Reichsmark. Unklar ist, ob nach dem Tod des Großvaters 1931 dessen Ehefrau auch weiterhin Pflegegeld zahlte (4).

Schon im Februar 1928 adoptierten die Gärtnerseheleute das Kind und ließen es schließlich am 3. Februar 1929 in Schriesheim evangelisch taufen.(5) Karl Heinz besuchte den Kindergarten und später die örtliche Volksschule. Nach Angaben des Vaters in dessen späterer Vernehmung war er sogar Mitglied im „Deutschen Jungvolk”, der NS-Organisation für die 10-14jährigen. Es war in Schriesheim nicht nur intern bekannt, dass Karl Heinz adoptiert war. Der entsprechende Eintrag „an Kindes statt angenommen” im Taufregister und die Übernahme des Familiennamens machten das halbwegs öffentlich. Dass seine leiblichen Eltern Juden waren, scheint zunächst keine größere Rolle gespielt zu haben, auch wenn von dem „Judenkind” die Rede war. Jedenfalls war der Junge wohl nicht ausgegrenzt. Selbstverständlich nahm er am evangelischen Religionsunterricht teil. Das Konfirmationsregister bescheinigt ihm dazu als Zeugnisnote der 8. Klasse eine 2. So lässt sich auf eine halbwegs gelungene Integration des Jungen schließen. Zeitzeugen (6), die ihn als Kind und Jugendlichen in Schriesheim erlebten, gemeinsam mit ihm die Schule besuchten und konfirmiert wurden, bestätigen dies. Ihre Erinnerungen lassen freilich auch die dunkler werdenden Schatten erahnen, die sich auf das Leben des Jungen und der Familie legten:

„Das war ein sauberer Bub, er hatte so schöne schwarze Locken, er konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun”. „Eine sehr nette Familie”: sie wohnte im „Mainzer Land” und Vater Klausmann pflegte den Garten der evangelischen Kirche. Der Junge sah gut aus, beeindruckte durch seine beige Cordjacke und galt als intelligenter und guter Schüler. Als Beleg hierfür blieb in Erinnerung, wie Karl Heinz ein Preisrätsel beim „Konsum” [Heidelberger Str. gegenüber Deutscher Hof] löste, für das er und ein kleineres Mädchen zwei Wochen später je einen Kompass als Preis abholen konnten. Die Nachbarskinder spielten mit ihm, „bis es verboten wurde”. Karl Heinz ist als anständiger junger Mann in Erinnerung, den die Eltern Klausmann über alles liebten. Er war einer der wenigen, die damals ein Kinderfahrrad besaßen. Als es für ihn zu klein wurde, wurde es in die Verwandtschaft verkauft und danach nochmals weitergereicht. Seit 1933 hatte es der Junge wegen seiner Herkunft in der Schule nicht einfach. Der Lehrer **** „schikanierte” den Jungen. Wen er sich meldete, bekam er mitunter zu hören: „Ach, weißt du auch was, du Judenbub?” Und seine Mitschüler konnten sich dem Sog allgemeinen Entwicklung wohl kaum entziehen.

Nach acht Jahren schloss Karl Heinz die Schule 1937 (7) ab und wurde gemeinsam mit mehr als sechzig Klassenkameraden, unter ihnen ein weiterer Junge einer jüdischen Mutter (8), konfirmiert.

Allerdings waren die Eltern wohl spätestens seit den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 (9) beunruhigt. Es wird berichtet, Mutter Klausmann habe auf Nachfragen auch aus der Verwandtschaft die Gefährdung jeweils mit dem Hinweis zu beschwichtigen versucht, der Junge sei „Halbjude”. Trotzdem reifte In den Eltern offenbar der Gedanke, den Jungen nach seiner Schulzeit in eine Lehre außerhalb von Schriesheim zu geben.

Ausbildungszeit außerhalb von Schriesheim (1937-1939)

Die während der letzten Schuljahre dunkler gewordenen Schatten holten den Jungen aber auch nach seiner Schulzeit und außerhalb Schriesheims ein. Die Zugehörigkeit seiner leiblichen Eltern zum Judentum sollte sich zunächst als Nachteil erweisen und später zum Verhängnis werden.

Zunächst vermittelte der Pflegevater eine Ausbildung auf dem Hofgut Fremersberg bei Baden-Baden, wohin sich Karl Heinz wenige Tage nach seiner Konfirmation auch polizeilich abmeldete (10). Camill Klausmann war in 1871 Lahr geboren und hoffte anscheinend, dem Adoptivsohn außerhalb von Schriesheim die Ausbildung frei von irgendwelchen Nachfragen zu seiner Herkunft erleichtern zu können. Vom Hofgut wurde Karl Heinz schon nach einem halben Jahr auf Anordnung der Landesbauernführerin zu einem Hauptmann Behrens am Geflügelhof „Hohbühl” in Achern geschickt, um die Geflügelzucht zu erlernen. In diesem Zusammenhang wurde schließlich der Nachweis der „arischen Abstammung” notwendig. Die nötigen Papiere wollte Vater Klausmann selbst besorgen. Eine Rückfrage des Reichsnährstandes in Karlsruhe beim Bezirksamt Mannheim löste entsprechende Nachforschungen aus. Das Ergebnis war unter den damaligen Umständen geradezu „vernichtend”: Jetzt war amtlich festgestellt, dass die leiblichen Eltern und alle vier Großeltern Juden waren. Entsprechend der seit den Nürnberger Gesetzen von 1935 eingeführten Terminologie setzte der Landrat unter den im März 1939 erstellten „Stammbaum” des Karl Heinz Klausmann die lapidare Kennzeichnung: „Volljude”(11).

Freilich wurde die Stigmatisierung des Jungen nicht erst durch das den Eltern am 24. März 1939 eröffnete Ergebnis der amtlichen Erhebungen mehreren Personen bekannt und wenigstens partiell öffentlich. Vielmehr scheint auch in Schriesheim schon früher die Tendenz gewachsen zu sein, Klausmann aus der Gemeinschaft auszuscheiden. Es ist zwar bemerkenswert, dass sein Name weder in der 1935 dem Bezirksamt zugeleiteten noch in der 1936 vom Deutschen Gemeindetag angeforderten Liste der in Schriesheim wohnhaften Juden vermerkt ist (12). Möglicherweise wollte ihn das Bürgermeisteramt damals noch schützen. Aber wenige Wochen nach der Reichspogromnacht im November 1938 finden wir im Taufregister von 1929 bei den Angaben zu Klausmann einen von unbekannter Hand eingefügten und mit Datum versehenen Nachtrag: „Jude!”. Welchem in der evangelischen Gemeinde Verantwortlichen war es ein so dringendes Anliegen, den seit über 1 ½ Jahren nicht mehr in Schriesheim wohnhaften Karl Heinz fast zehn Jahre nach seiner Taufe kirchenamtlich zu diskriminieren und ihm damit die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde zu bestreiten?

Vielleicht ist der Nachtrag im Taufregister den Eltern gar nicht bekannt geworden. Aber es ist kaum anzunehmen, dass die vorgenommene Kennzeichnung das Geheimnis weniger oder gar nur eines Einzelnen geblieben ist. In jedem Fall machte die vom Landrat veranlasste Eröffnung der amtlichen Erhebungen über die Abstammungsverhältnisse des Jungen den Eltern ausreichend klar, dass für ihn eine gedeihliche Zukunft in Schriesheim kaum mehr möglich sein würde. Immerhin konnte er noch bis Anfang Mai auf dem Geflügelhof bei Achern bleiben und möglicherweise sogar die Lehre abschließen. Ob und gegebenenfalls welches Zertifikat er dafür bekommen hat, war nicht zu ermitteln.

Versteckt auf der Geflügelfarm Fornoff in Weinheim (1939-1942)

Anfang Mai 1939 wechselte Karl Heinz Klausmann vom Geflügelhof Achern zur Geflügelfarm Fornoff in Weinheim, wahrscheinlich auf Vermittlung von Hauptmann Behrens, der ihn auf seiner am Hang gelegenen, gut einsehbaren und zu kontrollierenden Geflügelfarm in Achern nicht mehr halten konnte (13). Fornoffs wussten um die jüdische Abstammung Klausmanns und wollten helfen. Am 6. Mai meldete sich Klausmann in Schriesheim wieder polizeilich an, verzog aber noch im selben Monat nach Weinheim auf das Gelände der Geflügelfarm weit außerhalb Weinheims, in der heutigen Weststadt. Offenbar suchten nun auch die Eheleute Klausmann wieder den näheren Kontakt zur ihrem Adoptivsohn. Sie verließen Schriesheim ebenfalls und zogen Anfang August 1939 nach Weinheim in ein kleines Haus auf dem Gelände der Geflügelfarm (14), wo Kamill Klausmann eine Beschäftigung als Gärtner erhielt, nachdem der Besitzer der Geflügelfarm im Zuge der Mobilmachung zur Wehrmacht eingezogen worden war. Das Haus in der Schriesheimer Herrengasse wurde vermietet und nach dem Krieg von dem inzwischen verwitweten Camill Klausmann in die Verwandtschaft verkauft.

Karl Heinz hatte die Geflügelfarm im Auftrag von Frau Fornoff selbständig zu leiten. „Mit dem konnte man schaffen”, erinnert sich Sohn Karl der Familie Fornoff. Er wurde oft am Nachmittag nach der Schule auf die Farm geschickt, um Klausmann bei der Arbeit zu unterstützen. Dieser musste den täglichen Ertrag an Eiern feststellen und sie zum Verkauf vorbereiten, das Hühnerfutter verwalten und einteilen. Als Hilfe hatte er ein Mädchen aus Weinheim. Karl Heinz pflegte Kontakte zu anderen Jugendlichen aus der Umgebung und dem nahen Viernheim, die er auch selbst in ihren Wohnungen besuchte.

Verwandte aus Schriesheim, die den Kontakt zur Familie Klausmann halten wollten, besuchten sie nach Ausbruch des Krieges regelmäßig auf der Geflügelfarm. Meist am Sonntag fuhren sie mit der OEG nach Weinheim und stiegen an der Station Stahlbad aus. Sie achteten aber darauf, dass diese Besuche nicht bekannt wurden, wohl aus Angst vor Denunziation. Man traf sich in der kleinen Küche, saß auf der Eckbank, unterhielt sich über die Familie und konnte schließlich Eier mit nach Hause nehmen - aber Karl Heinz Klausmann tauchte bei diesen Besuchen niemals auf. Eine große Sorge der Mutter Klausmann war, dass der Junge eine Freundschaft mit einem Mädchen beginnen könnte. Sie fürchtete nicht ohne Grund, dass dies alle Beteiligten in Gefahr bringen würde. Die schwierigen Umstände und die fortwährende Angst waren der Gesundheit der unter Asthma leidenden Mutter nicht förderlich. Im Herbst 1940 besuchte sie eine Verwandte in Asbach bei Obrigheim. Dort starb sie am 1. Oktober im Alter von 64 Jahren – in der Verwandtschaft sagte man: „an gebrochenem Herzen”. Danach hörten die Besuche der Verwandten aus Schriesheim auf.

Als wenige Wochen später, am 22.Oktober 1940 die badischen und pfälzischen Juden nach Gurs in Südfrankreich deportiert wurden, konnte sich Karl Heinz Klausmann entziehen (15). Die Angaben des Vaters Klausmann in seiner Vernehmung vom November 1942 lassen vermuten, dass er in seinen Freunden auch weiterhin Helfer und Sympathisanten hatte, die ihn möglicherweise vor drohenden Gefahren warnten.

Es entwickelte sich jetzt auch eine Freundschaft zu einem Mädchen aus dem hessischen Odenwald, das in Weinheim in Stellung war. Bis zum Frühjahr 1942 konnte Karl Heinz in der Geflügelfarm arbeiten. Den Behörden war seine jüdische Abstammung spätestens seit Frühjahr 1939 und sein Aufenthalt in Weinheim seit August 1939 bekannt.

Flucht vor drohender Deportation und Tod in Frankreich (1942-1944)

Mitte März 1942 eröffnete die Gestapo dem nun fast Zwanzigjährigen, dass er am 24. April „evakuiert” werde. Sein Vermögen wurde eingezogen und die Mitnahme deutschen Geldes ins Ausland verboten (16). Im Zuge der „Endlösung” wurden 1942 auch die in Württemberg lebenden Juden nach und nach deportiert. Im Rahmen dieser „Abwanderungstransporte”(17) erfasste die Gestapo auch die nach der Deportation nach Gurs in Baden noch verbliebenen Juden und brachte sie zu Sammelstellen in Stuttgart. Von dort wurden z.B. am 26. April 1942 insgesamt 286 Juden aus Württemberg und Baden nach Izbica bei Lublin in Polen deportiert und ermordet (18). Dieses Schicksal war ganz sicher auch Karl Heinz Klausmann zugedacht. Doch er konnte sich der drohenden Deportation entziehen. Zwar wurde der Antrag seines Arbeitgebers Fornoff, ihn von der Deportation auszunehmen, abgelehnt (19). Aber Klausmann konnte sich nicht vorstellen, künftig mit Juden zu leben. Er sei „evangelisch erzogen” und könne „sich nicht zu den Juden bekennen”(20). So bereitete er gezielt seine Flucht vor. Bei einem in Weinheim wohnhaften Fräulein erlernte er noch Grundkenntnisse der englischen Sprache, entschloss sich aber bald, nach Frankreich zu fliehen. Von der Geflügelfarm schaffte er eine ganze Reihe Hühner fort, durch deren Verkauf er wohl seine finanzielle Situation aufbessern konnte. Vater Klausmann musste den Fehlbestand aus eigener Tasche bezahlen. Bei der Volksbank Weinheim hob Karl Heinz sein Sparguthaben ab und verschaffte sich in Mannheim französisches Geld. Sein Vater kaufte ihm eine neue Hose, gab ihm 200 Mark und einige Schmuckstücke seiner verstorbenen Mutter mit. Das befreundete Mädchen nähte ihm am letzten Abend das französische Geld in den Rock. Es muss ein schmerzhafter Abschied gewesen sein. Offenbar hatte er auch in Mannheim Freunde, die seine Planungen unterstützten und Ratschläge für eine erfolgreiche Flucht gaben. So empfahl ihm ein Kriegsverwaltungsrat Wustmann, er solle mit dem Fahrrad bis Ludwigshafen fahren und dort mit dem Zug um 4:25 Uhr über Straßburg, Kolmar bis Mühlhausen fahren und dort über die Grenze gehen. Vor den Städten sollte er jeweils aus dem Zug steigen und die Stadt mit dem Rad umfahren. Nach den Angaben des Vaters verließ Karl Heinz in den frühen Morgenstunden des 4. Mai die Geflügelfarm mit dem Ziel Frankreich. Einen Reisepass besaß er nicht, er nahm nur Arbeitsbuch und Geburtsschein mit. Er hoffte, sich in Frankreich einen gefälschten Pass ausstellen lassen zu können. Entgegen den Angaben des Vaters heißt es in der nach dessen Verhör von der Gestapo erstatteten Strafanzeige vom 2. Dezember 1942, Klausmann sei bereits am 14. April nach Frankreich geflohen.(21) Der Widerspruch lässt sich vielleicht so erklären, dass Klausmann nach dem 14. April untergetaucht, aber erst Anfang Mai geflohen ist. Ob die Flucht tatsächlich nach dem vom Vater geschilderten Plan verlaufen ist, kann nicht rekonstruiert werden. Aber sie ist gelungen. Zurück blieb ein einsamer und niedergeschlagener Vater. Karl Fornoff erinnert sich: „Der war am Boden zerstört, der Heinz war für die doch der Sohn!” Karl Heinz Klausmann konnte sich ins unbesetzte Frankreich, das sog. „Vichy-Frankreich” durchschlagen. Wie lange er dazu brauchte und welche Stationen er dabei durchlief, wissen wir nicht.

Natürlich schrieb die Gestapo Klausmann zur Fahndung aus. Besonders tragisch ist aber, dass zuerst das befreundete Mädchen in die Fänge der Gestapo geriet. Die Vernehmung des Mädchens selbst und möglicherweise weiterer Personen bestätigte nicht nur das bereits aus den Aussagen des Vaters anzunehmende Verhältnis zwischen Karl Heinz Klausmann und dem Mädchen. Die Gestapo konstatierte auch geschlechtliche Beziehungen der beiden Jugendlichen. Das galt als „Vergehen gegen das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre”, das „außerehelichen Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes” verbot.(22) Daher verhaftete die Gestapo die junge Frau am Tag nach der Vernehmung des Vaters Klausmann in der Wohnung ihrer Eltern. Sie wurde in Mannheim in „Schutzhaft” genommen. Wie damals vielfach üblich, wurde sie nach etwaiger Verbüßung einer Gefängnisstrafe nicht entlassen, sondern in ein Konzentrationslager „überstellt”. Sie überlebte diese Zeit und kehrte nach dem Krieg in ihren Heimatort zurück. Sie lebt noch heute. Eine Aussage über die damaligen Vorgänge würde sie psychisch jedoch derart belasten, dass sie gebeten hat, von einer Befragung Abstand zu nehmen.

Nach den Verhören des Vaters und anderer Zeugen erstattete die Gestapo Strafanzeige gegen Karl Heinz Klausmann „wegen Vergehen gegen das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre und wegen Devisenvergehens”. Zugleich schrieb sie ihn auch in Frankreich zur Fahndung aus. Auch wenn der Süden Frankreichs nicht besetzt war, hatten sich die Sicherheitspolizei und der Sicherheitsdienst (Sipo-SD) auch im Vichy-Frankreich, der sog. „freien Zone” eingenistet. Sie drängten die Vichy-Regierung und die Regionalpräfekten zur Kollaboration bei der Verfolgung der Juden, sie rekrutierten Spitzel, um Verstecke ausfindig zu machen und verhafteten oft eigenmächtig, ohne die französischen Behörden einzuschalten.(23) Obwohl seit 1941 aufgrund zahlreicher Razzien sowohl im besetzten Frankreich als auch in der „freien Zone” große Transporte über das Sammellager Drancy nach Auschwitz gegangen waren, gelang es einem Netzwerk verschiedener Hilfsorganisationen unter Mitwirkung zahlreicher Vertreter der reformierten und der katholischen Kirche und gestützt durch die praktische Solidarität der Mehrheit der französischen Bevölkerung, vor allem Kinder und Jugendliche einzeln in Gastfamilien zu verstecken. So intensivierten die deutschen Polizeibehörden im Frühjahr 1944 noch einmal die Suche nach versteckten Juden (24). Weit mehr aber waren die Kommandos der Sipo-SD damit beschäftigt, mit den Aktivitäten der Résistance fertig zu werden, die gegenüber früher erheblich zugenommen hatten (25). Offenbar wurde Karl Heinz Klausmann im Zuge dieser Fahndungen Anfang Mai von einem Kommando der Sicherheitspolizei in Lyon ausfindig gemacht und vier Tage vor seinem 22. Geburtstag festgenommen. Jetzt war er in den Händen von Klaus Barbie, dem berüchtigten „Schlächter von Lyon” (26). Zwei Wochen nach seinem Geburtstag wurde Karl Heinz Klausmann erschossen.

Etwa einen Monat nach der Festnahme Klausmanns landeten die Alliierten in der Normandie. Aber sein Versteck hätte ihm ein paar Monate länger gelingen müssen, um zu überleben. Denn von Mitte Mai bis Ende August 1944 gingen noch einmal zehn Transporte in die Vernichtungslager. Und die Gestapo von Lyon brachte auch im Juli und August 1944 noch zahlreiche im Gefängnis eingekerkerte Juden und Mitglieder der Résistance an entlegenen Orten um, weil sie nicht mehr deportiert werden konnten.(27)

Folgen wir der Angabe in der Meldung aus Lyon, so wollte Klausmann nicht nur selbst überleben. Er beteiligte sich aktiv am Widerstand und am Kampf gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Frankreich und widerlegt so die vielfach verbreitete Legende, die Juden hätten sich widerstandslos abführen und umbringen lassen. Fern seiner Heimat, von ihr schon damals weitgehend vergessen, setzte er sein Leben ein für die Befreiung Europas von nationalsozialistischem Terror – das half auch seiner Heimatstadt Schriesheim. Sie sollte das Erbe des adoptierten und in ihrer evangelischen Gemeinde getauften und konfirmierten jüdischen Kindes nicht vergessen. Ihm gebührt, was sein Konfirmationsspruch verheißt: „Die Krone des Lebens”.

Monika Stärker-Weineck und Joachim Maier

(veröffentlicht in: Schriesheimer Jahrbuch 2002, S. 88-103)

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(1) Konfirmationsregister 1937 der evangelischen Kirchengemeinde Schriesheim, A. Knaben, lfd. Nr. 16.

(2) Wilhelm Kaufmann, 1936-1952 Pfarrer in Schriesheim.

(3) Diese und die folgenden Angaben stützen sich, soweit nicht anders angemerkt, auf die Aussage von Kamill Klausmann in der Vernehmung durch die Geheime Staatspolizei am 26.11.1942 in Weinheim (Akten der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Mannheim); Druck: FLIEDNER, Hans-Joachim (Bearb.), Die Judenverfolgung in Mannheim 1933-1945, hg. vom Stadtarchiv Mannheim, Mannheim ²1991, S. 631-634.

(4) Die Angaben des Vaters Klausmann im Verhör widersprechen sich: einerseits gibt er an, etwa bis zum 12. Lebensjahr des Kindes (also bis 1934) ein Verpflegungsgeld erhalten zu haben, andererseits behauptet er, schon nach der Adoption (also 1928) habe jede Verbindung zur Familie Fulda aufgehört.

(5) Eintrag im Taufregister der evangelischen Kirchengemeinde Schriesheim 1929, lfd. Nr. 3. Als Taufpate ist verzeichnet: Adam Albrecht, KGRat [=Kirchengemeinderat] und Rathschreiber. Für die Zeit nach der Adoption verwenden wir zur Bezeichnung der Gärtnerseheleute Klausmann den Begriff „Eltern” im Unterschied zu den „leiblichen Eltern” Margarethe Fulda und Ernst Hirsch.

(6) Befragung mehrerer Zeit- und Altersgenossen, wörtliche Aussagen als Zitate gesetzt.

(7) Der Vater nennt in seiner Vernehmung das Jahr 1936. Das kann kaum zutreffen, weil das Konfirmationsregister der Kirchengemeinde von 1937 ihn als 8-Klässler verzeichnet.

(8) Hans Maier, Jg. 1923, Sohn der zur israelitischen Religionsgemeinschaft gehörenden Frieda Maier, geb. Marx, verheiratet mit Andreas Maier.

(9) Die „Nürnberger Gesetze” wurden im September 1935 auf dem Reichsparteitag durch Akklamation „beschlossen”: Das „Reichsbürgergesetz” unterschied zwischen einfacher „Staatsangehörigkeit” und „Reichsbürgerschaft”. „Reichsbürger” konnten nur „Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes” sein. Juden konnten nur Staatsangehörige sein und waren vom vollen Genuss der reichsbürgerlichen Rechte ausgeschlossen. Das „Blutschutzgesetz” verbot Eheschließungen sowie außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes”. Als „Halbjude” galt danach, wer unter seinen vier Großeltern zwei Juden oder Jüdinnen hatte. „Volljude” war, wessen vier Großeltern Juden waren. Wer drei jüdische Großeltern hatte, wurde nach dem Gesetz den „Volljuden” gleichgestellt.

(10) Karl Heinz Klausmann verzog am 19.03.1937 nach Baden-Baden. Mitteilung des Bürgermeisters Urban vom 25.09.1939 an den Landrat von Mannheim, Stadtarchiv Schriesheim A 1949.

(11) Schreiben des Landrates von Mannheim an den Reichnährstand (Landesbauernschaft Baden) in Karlsruhe, nachrichtlich an Bürgermeister in Schriesheim, Stadtarchiv Schriesheim A 1949.

(12) Dagegen werden in der vom Deutschen Gemeindetag im April angeforderten Liste Hans und Erwin Maier, die beiden Söhne der Eheleute Andreas und Frieda Maier, geb. Marx, verzeichnet. Sie galten nach damaliger Terminologie als „Halbjuden”. In der vom Bezirksamt Mannheim bereits im Oktober angeforderten Liste der in Schriesheim wohnhaften Juden sind 15 Haushaltungen mit 31 Angehörigen verzeichnet. Hier sind weder die Geschwister Maier (wohl ihre Mutter) noch Karl Heinz Klausmann registriert. Stadtarchiv Schriesheim A 1949.

(13) Fornoff kannte den Hauptmann Behrens über den Verband Deutscher Geflügelzüchter.

(14) Mitteilung des Bürgermeisters Urban vom 25.09.1939 an den Landrat von Mannheim, Stadtarchiv Schriesheim A 1949.

(15) Karl Fornoff, der gemeinsam mit einem Sohn des in der Nachbarschaft wohnenden badischen Ministerpräsidenten Walter Köhler die Schule besuchte, erinnert sich, seine Mutter habe mit Köhler gesprochen und dadurch möglicherweise erreicht, dass Klausmann bleiben konnte.

Walter Köhler (1897-1989), seit 1925 NSDAP-Mitglied, Mitbegründer der Ortsgruppen Weinheim und Schriesheim, 1929 MdL Baden, seit Mai 1933 Badischer Finanz- und Wirtschaftsminister und Ministerpräsident, 1945 verhaftet, 1949 entlassen, von der Spruchkammer zunächst als „Minderbelasteter”, im Berufungsverfahren 1950 als „Belasteter” verurteilt. In Einzelfällen scheint sich Köhler tatsächlich für verfolgte „Juden, Halbjuden und jüdisch Verheiratete” eingesetzt zu haben. Aber das von ihm geleitete Finanz- und Wirtschaftsministerium vollzog penibel die „Arisiering” und „Verwaltung und Verwertung des jüdischen Vermögens”. Vgl. Ernst Otto BRÄUNCHE, Walter Köhler: Badischer Ministerpräsident – ein „anständiger” Kerl und ein „moralisch integrer” Nationalsozialist, in: Die Stadt Weinheim zwischen 1933 und 1945, S. 135-160, hier S. 152.

(16) Strafanzeige der Gestapo gegen K.H. Klausmann vom 2.12.1942, FLIEDNER, S. 631.

(17) Vielfach benutze die Gestapo zur Organisation der Deportation die Reichsvereinigung der Juden. Diese hatte den Familien Termin und die zu beachtenden Regeln mitzuteilen. Dabei wurde statt „Evakuierung” der Begriff „Abwanderungstransport” verwendet.

(18) Unter ihnen auch die vierköpfige Familie Auerbacher aus Weinheim. Vgl.: Die Stadt Weinheim zwischen 1933 und 1945, hg. im Auftrag der Stadt Weinheim, Weinheim 2000, S. 517 und 531.

(19) Vgl. die Angabe in der Strafanzeige der Gestapo vom 2.12.1942, FLIEDNER, S. 631.

(20) Aussagen des Vaters Klausmann in seiner Vernehmung vom 26.11.1942 in Weinheim, vgl. auch zum Folgenden, FLIEDNER, S. 633.

(21) Strafanzeige der Gestapo, Außendienststelle Mannheim, FLIEDNER, S. 631.

(22) Gesetz „zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre” vom 15.09.1935; DRUCK: W. HOFER (Hg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, Frankfurt 1957, S. 285.

(23) Vgl. dazu die ausführliche Darstellung und Dokumentation von Serge KLARSFELD, Vichy – Auschwitz. Die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der „Endlösung der Judenfrage” in Frankreich, Nördlingen 1989.

(24) Vgl. KLARSFELD, S. 303-318.

(25) Vgl. KLARSFELD, S. 314.

(26) Klaus BARBIE, geb. 1913 in Bad Godesberg; 1940-1942 Judenreferat Den Haag, ab November 1942 als SS-Hauptsturmführer und Leiter der Abteilung IV (Gestapo) bei der Sipo-SD in Lyon; nach dem Krieg zweimal in Abwesenheit zum Tod verurteilt; Flucht nach Bolivien, 1971 als Barbie identifiziert, 1983 verhaftet und nach Frankreich ausgeliefert; 1987 in Lyon wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt. Vgl. KLARSFELD, S. 592.

(27) Vgl. KLARSFELD, S. 317; 578f.

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