Stadtgeschichte: Auch in Weinheim wurden heute vor 75 Jahren Geschäfte und Praxen boykottiert
Als SA-Männer die jüdischen Ladentüren versperrten
Am 1. April 1933, heute vor 75 Jahren, standen um 10 Uhr überall in deutschen Städten uniformierte, teils auch bewaffnete SA-, HJ- und Stahlhelm-Posten vor jüdischen Geschäften, Arzt-, Anwalts- und Notarspraxen und hinderten etwaige Kunden den ganzen Tag lang daran, die Geschäfte und Praxen zu betreten. Schilder und Plakate forderten: „Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei(m) Juden!”, „Die Juden sind unser Unglück!”, „Meidet jüdische Ärzte!”, „Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten!” Damit nahm die Regierung die seit dem 25-Punkte-Programm der NSDAP von 1920 geplante Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben erstmals durch eine reichsweite, gezielt nur gegen sie gerichtete Maßnahme in Angriff.
Lange vorbereitet
Schon seit März bereiteten „Stürmer”-Herausgeber Julius Streicher und das von ihm eingerichtete „Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze” den Boykotttag vor. Am 29. März stand Goebbels’ Boykottaufruf im „Völkischen Beobachter”: „Samstag, Schlag 10 Uhr, wird das Judentum wissen, wem es den Kampf angesagt hat”. Am 31. März verkündete der „Weinheimer Anzeiger” auf seiner Titelseite in großen Lettern: „Die Gegenaktion der NSDAP gegen die Greuelpropaganda im Ausland”.
Am 1. April 1933 berichteten beide Lokalzeitungen ganz aktuell, aber stark verharmlosend und völlig unkritisch über den Boykottverlauf in Weinheim.
Warnung auf roten Plakaten
Im „Weinheimer Anzeiger” war zu lesen: „Im Verfolg des allgemeinen Boykotts jüdischer Geschäfte als Abwehrmaßnahme gegen die im Ausland verbreiteten Greuelnachrichten ist heute früh 10 Uhr die Weinheimer SA und SS mit Musik auf den Marktplatz gezogen. Dort wurden die Boykottposten bestimmt, die umgehend sich vor den jüdischen Geschäften postierten. Die übrigen Mannschaften der SA und der SS haben einen umfangreichen Streifendienst durch die Straßen der Stadt aufgenommen. Insgesamt sind an cirka 32 Stellen Posten aufgestellt.
Von den jüdischen Geschäften hat bis 11.30 Uhr lediglich die WohlWert-Filiale in der Hauptstraße geschlossen. Die übrigen Geschäfte waren weiterhin geöffnet. An den Schaufenstern sind rote Plakate „Deutsche kauft nicht beim Juden!” angebracht worden. Das Straßenbild zeigt heute einen außergewöhnlich lebendigen Charakter.”
Unter der Überschrift „Die Durchführung des Boykotts in Weinheim” berichteten die „Weinheimer Nachrichten” in der Ausgabe vom 1. April: „Schon vor 9 Uhr vormittags herrschte auf der Hauptstraße ein lebhafter Personenverkehr. Die SA- und SS-Formationen durchzogen gegen 10 Uhr bei Beginn des Boykotts unter Vorantritt der SA-Kapelle die Stadt. Sämtliche Läden sind geöffnet, vor jedem boykottierten Geschäft sind je zwei SA-Leute postiert, um Käufer zu unterrichten, das Einkaufen in boykottierten Geschäften zu unterlassen. Die Weinheimer Kreisleitung (der NSDAP. Die Red.) hat angeordnet, dass selbstverständlich die Durchführung der Aktion gemäß den Anordnungen der Reichsleitung auch hier in mustergültiger Disziplin erfolgt.”
Schon im März ein Boykott
In Weinheim hatte bereits am 11. März 1933 ein örtlicher Boykott stattgefunden. Ingeborg Wiemann-Stöhr berichtet im Weinheimer Geschichtsblatt 37/1991 darüber: Dabei „wurden die Schaufenster der jüdischen Geschäfte mit großen gelben Kreisen gekennzeichnet und den Kaufwilligen von SA-Posten das Betreten des Geschäftes erschwert”.
Dieser frühe Boykott kam nach den Erkenntnissen von Frau Wiemann-Stöhr nicht auf Anordnung von höheren Instanzen und „Befehl von oben” zustande, „sondern wurde ausschließlich von der örtlichen Partei und ihren Organisationen beschlossen und durchgeführt. Natürlich war Weinheim”, so die Autorin weiter, „nicht der einzige Ort, an dem zu diesem frühen Zeitpunkt offen antijüdische Aktionen durchgeführt wurden, aber dort, wo sie stattfanden, zeigten sie den besonderen Stellenwert antisemitischer Vorurteile in der örtlichen NSDAP”.
Erinnerung an Dr. Pfälzer
Zu den Zielen des „Judenboykotts” am 1. April 1933 gehörte auch Dr. Moritz Pfälzer (1869-1936), einer der prominentesten Weinheimer Rechtsanwälte, Mitglied der Mannheimer Anwaltskammer und seit 1911 Vorsitzender des Weinheimer Gewerbegerichts, in der Weimarer Zeit für die Deutsche Demokratische Partei (DDP) Mitglied im Bürgerausschuss, Vorsteher der jüdischen Gemeinde Weinheim und Vorsitzender des Oberrats der badischen Juden.
In einem weiteren Beitrag erinnern wir an ihn.
Heinz Keller, veröffentlicht in den "Weinheimer Nachrichten" vom 01.04.2008