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Anni und Lothar - zwei Weinheimer Kinder

Als Juden wurden sie vertrieben und schlossen dennoch ihren Freiden mit der Geburtsstadt

Auf Einladung der Stadt Weinheim nahmen vom 27. Mai bis 5. Juni 1979 siebzehn ehemalige jüdische Bürger an einem Heimattreffen teil. Vom 15. bis 20. April 1991 fand ein zweites Heimattreffen mit sechzehn Teilnehmern statt. Nicht alle Einladungen waren angenommen worden. Das Bedauern darüber wurde erneut lebendig, als in den Weinheimer Nachrichten am 9. November 2000 der jüdische Unternehmergeist gewürdigt wurde, der bis 1938 einen wichtigen Beitrag zur Anziehungskraft der Einkaufsstadt Weinheim geleistet hatte.

Mit bewegenden Erinnerungen ergänzten inzwischen Theo Heckmann und Wolfgang Daffinger die Beiträge in den Weinheimer Nachrichten.

Auf recht unterschiedliche Weise waren sie nach dem 2. Weltkrieg der Vergangenheit begegnet. Theo Heckmann, Weinheimer Segelflieger-Legende, hatte in der Gewerbeschule einen Klassenkameraden, der nach offiziellem Sprachgebrauch anders war als er: den jüdischen Schlosserlehrling Lothar Marx. Seine Eltern waren Salomon Marx und Therese Marx, geborene Krämer, verwitwete Heumann. Sie betrieben in der unteren Hauptstraße ein Kurzwaren- und Möbelgeschäft. Lothar Marx war ein ruhiger zurückhaltender Schüler, doch voller Angst nahm er am 10. November 1938 am Unterricht bei Diplomingenieur Willy Kurzenhäuser teil, denn ganz in der Nähe der Gewerbeschule (heute Uhlandschule) war in den frühen Morgenstunden die Weinheimer Synagoge zerstört worden. Der damals 17-jährige ahnte, was das für die Juden Weinheims und damit auch für seine Familie bedeutete. Seine "arischen" Mitschüler bemerkten seine Angst und begleiteten ihn in den folgenden Tagen auf dem Weg nach Hause, auch wenn sie sich von strammen SS- und SA-Männern sagen lassen mussten, es sei eine Schande, dass Hitlerjungen einen Juden begleiteten [Anmerkung: Zeitangabe kann nicht stimmen, Lothar Marx war am 15.09.1938 in die USA emigriert; Stadtarchiv].

Lothar Marx verschwand aus Weinheim. Das rettete ihm sein Leben. Denn seine Eltern wurden am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert. Therese Marx am 4. September 1942, Salomon Marx am 6. November 1942 weiter nach Auschwitz. Beide wurden am 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation, für tot erklärt.

Theo Heckmann hat als Jagdflieger in der Me 109 am 2. Weltkrieg teilgenommen und wurde schwer verwundet. Nach der Auflösung des Jagdgeschwaders 27 am Kriegsende kam Heckmann in ein amerikanisches Lager auf dem Flugplatz in Bad Aibling. In der einstigen Flughalle führten die Amerikaner die Vernehmungen durch. "Woher, Schulbildung, Lehrer?" waren die Fragen des vernehmenden US-Offiziers. Eine ungewöhnliche Frage hängte er an: "Waren Juden in der Klasse?". Als Theo Heckmann bejahte, gab sich er Offizier zu erkennen: "Theo, ich bin der Lothar!". Dieses Bekenntnis musste unauffällig bleiben, um die Verwirklichung des damit verbundenen Versprechens nicht zu gefährden: "In drei Tagen seid ihr zu Hause", hatte Lothar Marx seinem einstigen Klassenkameraden Theo Heckmann zugeflüstert und dieses Versprechen auf alle in Bad Aibling inhaftierten Weinheimer ausgedehnt. Drei Tage später waren die drei Weinheimer Heckmann, Strasser und Boxheimer zu Hause.

Theo Heckman hat Lothar Marx nie mehr gesehen, denn der einstige Weinheimer Jude hat, wie seine Stiefschwester Ruth Hirsch, die Einladung der Stadt Weinheim zum Heimattreffen 1991 nicht angenommen. Lothar Marx ist 1996 verstorben, seine Stiefschwester lebt in Louisville im Bundesstaat Kentucky.

Ein anderes Erlebnis hatte Wolfgang Daffinger während seines zweisemestrigen Studiums 1952/53 an der Cornell University in Ithaka im US-Bundesstaat New York. Die ausländischen Studenten wurden zu Weihnachten 1952 in amerikanische Familien eingeladen. Die Gastgeber des späteren Landtagsabgeordneten und Weinheimer Bürgermeisters waren die Olsens, Amerikaner schwedischer Abstammung. Mit ihnen ging der damals 25jährige Deutsche zur gemeinsamen Weihnachtsfeier, die im Rathaus einer Kleinstadt bei Buffalo für alle ausländischen Studenten stattfand. Einem Ehepaar, das an der Veranstaltung teilnahm, stellte er sich vor: "Daffinger, Germany". Die Dame wollte mehr wissen und gab sich auch nicht mit:"...near Heidelberg" zufrieden. Auf weitere Frage: "Wo genau?" antwortete Daffinger mit: "Weinheim". Das Gesicht der Dame versteinerte, sie wandte sich wortlos um und ließ einen ratlosen jungen Deutschen zurück.

Im Laufe des Abends erfuhr Wolfgang Daffinger, warum Mrs. Ney so abrupt reagiert hatte: Sie war 1905 in Weinheim geboren worden, als einzige Tochter von Betty und Heinrich Liebmann, die an der Hautstraße das Kaufhaus Liebmann betrieben, in dem man fast alle Textilien kaufen konnte. Anna Irma Liebmann, genannt Anni, heiratete den jüdischen Stuttgarter Ney und emigrierte mit ihm 1941 nach New Jersey. Ihre Mutter war 1936 gestorben, der Vater harrte in Weinheim aus im guten Glauben, ihm könne nichts geschehen. Als 65-jähriger wurde Heinrich Liebmann am 22. Oktober 1940 nach Gurs deoportiert, am 22. Mai 1944 nach Auschwitz gebracht und ermordet.

Anny Ney-Liebmann konnte das Schicksal des Vaters nicht verwinden. Sie wollte mit ihrer Geburtsstadt Weinheim nichts mehr zu tun haben, musste aber zur Abwicklung verschiedener Dinge nach Kriegsende nach Deutschland kommen. Dabei vermied sie persönliche Begegnungen. Die schlimme Erinnerungen prägten 1952 das unerwartete Zusammentreffen mit einem Weinheimer. Der Weihnachtsabend hatte dennoch ein gutes Ende: Anni Ney-Liebmann überwand eine Mauer, bat die Olsens um die Zustimmung, dass sie Wolfgang Daffinger mit in ihr Haus nehmen durfte und machte in den vielen Gesprächen während der Feiertage einen Schritt auf ihre Geburtsstadt Weinheim zu.

Als Wolfgang Daffinger anschließend mit seiner Mutter in Weinheim telefonierte, erinnerte sie sich an ihre Schulkameradin Anni Liebmann in der Pestalozzischule, kramte das alte Klassenbild heraus und schickte es dem Sohn und der alten Schulfreundin, von der sie bis dahin nichts mehr gehört hatte.

Heinz Keller, veröffentlicht in den Weinheimer Nachrichten vom 22.11.2000.

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