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Alfred Neu – zwei tödliche Privilegien

Alfred Neu wurde am 2. Juni 1940 zusammen mit 77 weiteren Patienten aus der Heilanstalt Winnenthal nach Grafeneck deportiert und höchstwahrscheinlich noch an diesem Tag vergast und verbrannt.

Die Suche nach Spuren dieser gnadenlos vernichteten Existenz führt zunächst nach Weinheim an der Bergstraße, wo Alfred am 6. November 1895 als Sohn des Weinhändlers Max (Mordechai) Neu und seiner Frau Eugenie als jüngstes von vier Geschwistern zur Welt kam. Er war noch keine zwei Jahre alt, als sein Vater starb.(1) Bald nach diesem Verlust zog die Mutter nach Cannstatt, vermutlich weil sie die Nähe von Verwandten gesucht hat.(2) Im Jahre 1900 verzeichnet das Adressbuch der damaligen württembergischen Oberamtsstadt erstmals ihren Namen. Man darf wohl annehmen, dass sie dort mit ihren Kindern Martin (Jahrgang 1887), Else/Elsa (1888), Max-Isidor (1892) und Alfred zusammengelebt und sie der Reihe nach in Berufe und eigene Haushalte entlassen hat.

Die nächsten überkommenen Nachrichten stammen aus Eugenie Neus 1956 gestelltem Antrag auf Hinterbliebenenrente und Kapitalentschädigung (3). Sie betreffen die Kriegsteilnahme Alfreds und seiner Brüder. Max-Isidor erlitt Schussverletzungen an beiden Beinen und lag deshalb ein Jahr im Streckverband. Martin war Unteroffizier und Offiziersaspirant, Träger der Württembergischen Verdienstmedaille und des Eisernen Kreuzes zweiter Klasse. Von Alfred, Eugenie Neus Jüngstem, ist bekannt, dass er 1914 als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg zog und als Angehöriger der Maschinengewehr-Kompanie Regiment 120 in Flandern zum Einsatz kam. Mit 1,64 m Körpergröße und knapp 60 kg Gewicht war er gewiss keine furchteinflößende Erscheinung, dennoch wurde er wegen Tapferkeit vor dem Feinde zum Leutnant der Reserve befördert. Für seinen außergewöhnlichen Mut sprechen auch das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse, Verdienstorden, Friedrichsorden mit Schwertern und Goldenes Verwundetenabzeichen.

Wofür Alfred Neu seine zahlreichen Auszeichnungen erhielt, geht aus den Akten nicht hervor, wohl aber wird berichtet, dass er in Verdun gekämpft hat und verschüttet wurde. Dies ist ihm zum Verhängnis geworden, nahm seine Mutter an, als sie 1922 die ersten Anzeichen einer geistigen Erkrankung zur Kenntnis nehmen musste. Alfreds Zustand erforderte die Aufnahme ins Stuttgarter Bürgerhospital, wo er von 8. August bis 7. Dezember 1922 behandelt wurde. Nach kurzer Unterbrechung folgte ein Aufenthalt in der Tübinger Nervenklinik (23. Januar 1923 bis 15. Juli 1924), dem sich nahtlos die Aufnahme in die Heilanstalt Winnental und 16 Jahre Aufenthalt dort anschlossen. So gut wie nichts ist über Alfred Neus Leben und Leiden in dieser Zeit überliefert. Regelmäßige Besuche hat er erhalten, wahrscheinlich von seiner Mutter, vielleicht von seinen Geschwistern, zuletzt wohl von Eugenies Vetter Salomon Schlesinger, der in Cannstatt blieb, bis er im August 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde und im November des folgenden Jahres dort starb.

Die Besuche in Winnenthal wurden weniger, als Eugenie Neu am 19. Juli 1939 Deutschland verließ. In der ersten Klasse (4) der „President Harding” reiste sie von Hamburg nach New York zu ihrem Sohn Max, der mit einjähriger Unterbrechung seit 1929 in den Vereinigten Staaten lebte. So wäre Alfred Neus weiteres Leben wahrscheinlich weitgehend ohne äußere Ereignisse verlaufen, wäre nicht in Vorbereitung des NS-Euthanasie-Programms auch die Heilanstalt Winnenthal aufgefordert worden, dem Reichsminister des Inneren Angaben über bestimmte Patienten nach Berlin zu übermitteln. „Jude, Schizophrenie, arbeitsunfähig” waren die einem Todesurteil gleichkommenden Vermerke in Alfred Neus Akte. Entscheidend insofern, als arbeitsunfähige Patienten mit der Diagnose Schizophrenie zur Vernichtung vorgesehen waren, entscheidend aber auch, weil psychisch kranke Juden ohne jede weitere ärztliche Prüfung getötet werden sollten.

Als im Herbst 1939 die Meldebögen versandt wurden, war das Euthanasievorhaben bereits von der Planung ins Stadium der Realisierung übergegangen. Das beschlagnahmte Behindertenheim Grafeneck wurde zur Tötungsanstalt umgebaut, und in Berlin-Charlottenburg wurde die „Gemeinnützige Kranken-Transport GmbH” (Gekrat) ins Handelsregister eingetragen, deren Aufgabe es war, die Patienten aus den verschiedenen Anstalten abzuholen und in die Tötungsanstalten zu transportieren.

Mit seiner Unterschrift und den erwähnten Vermerken auf dem Meldebogen hat Anstaltsdirektor Dr. Gutekunst den Tod Alfred Neus also doppelt besiegelt, vielleicht noch nicht völlig im Klaren über den tödlichen Zweck der Erhebung, aber keinesfalls ahnungslos. Es war im Herbst 1939 als er unterschrieb, Hitler hatte den Zweiten Weltkrieg bereits vom Zaun gebrochen. Ein knappes Jahr später, am 6. August 1940, schrieb die 73-jährige Eugenie Neu aus New Jersey an den sehr geehrten Herrn Direktor in Winnenthal:

„Durch meinen Vetter, Herrn Schlesinger aus Cannstatt, wurde mir mitgeteilt, dass mein l. Kind Alfred Neu gestorben ist, was mich natürlich sehr aufgeregt hat, und doch danke ich dem lb. Gott, dass er meinen Sohn von seinem schweren Leiden erlöst hat. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn es geht, mir über seine letzten Lebenstage zu berichten. Gleichzeitig möchte ich dem Herrn Doktor sowie Herrn Pfleger meinen Dank aussprechen für die Mühe und Arbeit, die dieselben mit meinem Sohn hatten. Mit aller Hochachtung grüßt Frau [P4433:Eugenie Neu)”

Der Adressat dieses Schreibens hat der Bitte von Frau Neu nicht entsprochen. Vielmehr ließ Direktor Gutekunst die Anfrage aus Amerika am 5. September mit folgendem Hinweis nach Grafeneck weiterreichen: „Neu wurde am 3.6. nach dort verlegt, über sein weiteres Schicksal ist uns nichts bekannt. Wir sind daher nicht in der Lage, den Brief zu beantworten.”

Man könnte diese Zeilen als Protest einer Anstaltsdirektion lesen, deren ärztlicher Obhut gegen ihren Willen Patienten entrissen werden. In diesem Sinne hatte Dr. Gutekunst im Februar seinem Weinsberger Kollegen Dr. Joos geschrieben, der ihm besorgt berichtete (5), zwei Busse hätten 52 seiner Patientinnen mit unbekanntem Ziel antransportiert. Gutekunst, der bis dahin weder Patienten noch Meldebögen hatte abgeben müssen, antwortete am 8. Februar: „Ein Direktor sollte doch erwarten können, dass ihm der künftige Aufenthaltsort seiner Pfleglinge mitgeteilt wird, damit er zum mindesten ihre Angehörigen aufklären und beruhigen kann. Schließlich war man auch mit diesen bedauernswerten Kranken innerlich einigermaßen verwachsen.”(6)

Inzwischen war Direktor Gutekunst über den „künftigen Aufenthaltsort” seiner abtransportierten Patienten jedoch sehr genau im Bilde. Hatte man in Winnenthal 1939 noch gemutmaßt, mit den von der Anstalt auszufüllenden Fragebogen sollte womöglich die Tötung von Geisteskranken eingeleitet werden, so war man Mitte 1940 längst nicht mehr auf Mutmaßungen angewiesen. Bereits im Februar 1940 war Dr. Gutekunst ins Innenministerim nach Stuttgart zitiert und von Ministerialrat Dr. med. Stähle über die „Geheime Reichssache Grafeneck” und die dort vorgesehenen Patientenmorde informiert und zu Stillschweigen über dieses „Staatsgeheimnis” verpflichtet worden.(7) Seine ärztlichen Kollegen hat Gutekunst, als ihm die ersten Deportationslisten vorlagen, über diesen Sachverhalt informiert.(8) Ohnehin kann ihnen nicht entgangen sein, dass zwischen den Diagnosen auf den Meldebögen und der Auswahl der Abtransportieren ein deutlicher Zusammenhang bestand. Überdies waren die berüchtigten grauen Busse schon fünf Mal in Winnenthal gewesen und hatten 227 Patienten nach Grafeneck deportiert, wo sie am Tage ihrer Ankunft im Kohlenmonoxyd erstickt wurden. Zwei von ihnen durften allerdings zurückkehren. Selbst wenn diese beiden schweigen mussten und sich an das Schweigegebot hielten, ist leicht vorstellbar, was für Gerüchte ihre Rückkehr unter den Patienten und dem Personal ausgelöst hat. Direktor Gutekunst wäre also durchaus in der Lage gewesen, Eugenie Neus Anfrage wahrheitsgemäß zu beantworten.

Im oben zitierten Brief an seinen Kollegen Joos hatte er noch gemutmaßt, die abtransportierten Kranken würden „unter möglichst einfachen primitiven Verhältnissen verpflegt werden. Die Folgen dieser primitiven Verpflegung”, fuhr er fort, „werden sich bald bemerkbar machen und nicht unerwünscht sein. Andere Gedanken verdränge ich immer noch in mir.” Später hat dann seine Neugier obsiegt, „zu erfahren, was dort oben vorgeht; ich konnte mir ja nicht vorstellen, wie die Tötung der vielen Menschen vor sich geht […]. Der Arzt zeigte mir eine Baracke mit Betten, die wahrscheinlich nie benutzt wurden, denn sie waren alle frisch überzogen, den Gasraum mit vorgeschützter Brause, die Verbrennungsöfen, und außerdem sah ich in einem Nebenraum einen großen Haufen Asche mit Knochenstücken. Meiner Erinnerung nach verklopfte ein Angestellter von Grafeneck diese Knochenstücke gerade mit dem Hammer.”(9)

Bei der Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg ist Dr. Gutekunst als Mitläufer eingestuft worden, der die NS-Ideologie zurückgewiesen und vielen Kranken das Leben gerettet haben will. „Dieser Einschätzung des Jahres 1948 soll nicht pauschal widersprochen werden”, schreibt Thomas Stöckle. In der Tat ließ und lässt sich offenbar bis heute kein Beweis für eine aktive Mitwirkung Dr. Gutekunsts an der NS-Euthanasie finden, aber mit dem Hinweis auf verräterische Formulierungen seien die Korrekturen, die Stöckle an der Selbsteinschätzung des Arztes vornimmt, ergänzt. Gutekunst trifft eine unzweideutige Aussage, wenn er dem Kollegen Joos schreibt, dass die Folgen einer primitiven Verpflegung „nicht unerwünscht” sein werden. Woher weiß er das? Aufhorchen lässt auch die Formulierung, dass man „mit diesen bedauernswerten Kranken innerlich einigermaßen verwachsen” war. Warum „war”? Sind sie schon aufgegeben? Und warum einigermaßen?

Als die Meldebogen von Berlin aus verschickt, in den Anstalten ausgefüllt und an den Minister des Innern zurückgereicht wurden, hatte der Zweite Weltkrieg schon begonnen und mit ihm die systematische Tötung Geisteskranker. Zwei Tage nach der Kapitulation Polens, „am 29. September beginnt im Krankenhaus Kocborow bei Bromberg der Massenmord an psychisch Kranken. Bis zum 1. November werden dort 2342 Kranke getötet.”(10)

Ob Gerüchte über die Grafeneck-Morde auch zu Salomon Schlesinger nach Cannstatt in die Hohenstaufenstraße gedrungen waren, lässt sich nur vermuten. Sollte er Verdacht geschöpft haben, so hat er doch Alfred Neus Mutter damit verschont. So blieb ihr rührendes Vertrauen in den ärztlichen Direktor vorerst unerschüttert. Wie sehr es missbraucht worden ist, muss ihr Jahre später klar geworden sein, als sie Kapitalentschädigung und Rente beantragte. Ihr Sohn Alfred, machte sie geltend, habe als Vertreter verschiedener Chemischer Fabriken gut verdient und den gemeinsamen Haushalt finanziell getragen. Als er sie seiner Krankheit halber nicht mehr unterstützen konnte, sei sie gezwungen gewesen, ihre Wohnung aufzugeben und ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, indem sie Verwandten den Haushalt führte. Der Antrag wurde abgelehnt, weil ihr Sohn schon 1923 erwerbsunfähig und ohne eigenes Einkommen war und seine Mutter zum Zeitpunkt seines Todes nicht mehr unterhalten hatte. Das war juristisch sicherlich stichhaltig, wenn auch menschlich bedauerlich. Mehr als bedauerlich ist die Feststellung des daraufhin 1958 angerufenen Sozialgerichts Bremen, die 1936 erfolgte Entziehung der Kriegsversorgungsbezüge Alfred Neus sei „keine typische nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahme” gewesen. Aus heutiger Sicht schwer verständlich ist auch, dass ein Gnadengesuch vom Februar 1959 für die mittlerweile 93-Jährige offenbar nicht einmal einer Antwort gewürdigt wurde. Es war an den Bundesarbeitsminister gerichtet und ging in Kopie an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages, das Wiedergutmachungsamt in Stuttgart wegen etwaigen Härteausgleichs und an den Justizminister des Landes Baden-Württemberg. Vielleicht hat Eugenie Neu, als sie am 12. Juni 1959 vermutlich in großer Armut starb, immer noch auf den erbetenen Gnadenerweis gehofft. Außer Alfred hatten die Nazis auch ihre Tochter Else/Elsa in Majdanek und ihren Vetter Salomon Schlesinger in Theresienstadt umgebracht. Die gleich ihr nach Amerika gelangten Söhne Martin und Max-Isidor waren ihr ebenfalls im Tod vorausgegangen.

Dass Eugenie Neu von der Landespflegeanstalt Grafeneck als neuer Adressat in ihrer Anfrage keiner Antwort gewürdigt wurde, darf angenommen werden. Todesurkunde und standardisiertes Beileidsschreiben sind wohl zusammen mit der Urne Salomon Schlesinger als dem letzten in Cannstatt noch erreichbaren Verwandten zugeleitet worden. Er hat vermutlich dafür gesorgt, dass die Urne im israelitischen Teil des Steigfriedhofs beigesetzt und mit einer einfachen Grabplatte an Alfred Neu erinnert wurde. Auf den Verdacht, die Urne könnte nicht die Asche von Alfred, sondern von ganz verschiedenen Menschen enthalten, ist Salomon Schlesinger sicher nicht gekommen.

Mit dem Wort „Schicksal” in seinem Schreiben vom 5. September nach Grafeneck deutet Gutekunst zwar mindestens eine Ahnung von den dortigen Vorgängen an, aber der Satz, in dem es steht, entwertet den ganzen Protest. Es ist eine Lüge, dass sich Dr. Gutekunst zu diesem Zeitpunkt über Alfred Neus Schicksal noch im Unklaren war. Schon fünf mal waren die grauen Busse nach Winnental gekommen und hatten 227 seiner Patienten abgeholt, und ihm als Arzt kann nicht entgangen sein, dass zwischen den Diagnosen auf den von ihm unterschriebenen Meldebögen und der Auswahl der Abtransportieren ein Zusammenhang bestand. Unruhe unter seinen Patienten, die Besorgnis der Angehörigen, Gerüchte und das trotz vergeblicher Geheimhaltung „zunehmende Wissen um die als ‚” stattfindenden Morde”(11) kann ihm ebenso wenig entgangen sein.

Fußnoten:

(1) Zu den Lebensdaten von Max (Mordechai) Neu vergl. www.juden-in-weinheim.de.

(2) Bei ihrer Auswanderung hat sie als nächsten Verwandten ihren Bruder genannt, den Canstatter Fabrikanten Hermann Würzburger (Recherche Deutsches Auswandererhaus, Bremerhaven). Bei Würzburger, Brunnenstraße 1938 hat sie seit 1938 auch gewohnt.

(3) StAL EL 350 ES 24873.

(4) Eugenie Neu hat angegeben, sie habe, nachdem Alfred sie nicht mehr unterstützen konnte, ihre Wohnung aufgeben und durch Haushaltsführung bei Verwandten ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Dass sie ungeachtet ihrer bescheidenen Einkünfte erster Klasse reiste, könnte seine Ursache darin haben, dass die zweite Klasse ausverkauft war. Denkbar ist auch, dass ihr Bruder Hermann Würzburger und/oder ihr Sohn Max die Passage mitfinanziert haben.

(5) Ernst Klee, "Euthanasie" im NS-Staat. Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens", Frankfurt am Main 1983, S. 115.

(6) Klee a.a.O. S. 116

(7) Stöckle, Winnenden, 148.

(8) Stöckle, Winnenden, 143.

(9) Klee, a.a.O.

(10) Klee, 89.

(11) Stöckle, 159

Verfasser: Rainer Redies, Stuttgart,

veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors,

siehe auch www.stolpersteine-cannstatt.de

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